30. ROTTERDAM-MARATHON, 11. April 2010
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AUFBAUKÄMPFE
Silvesterlauf Frankfurt (10 km), 27.12.09
Altenbusecker Halbmarathon, 23.1.10
Mörfelder Halbmarathon, 7.2.10
Seligenstädter Winterserie (10 km), 20.2.10
Bienwald-Marathon, 14.3.10
STRECKE ¤ VORBEREITUNG ¤ MARATHON ¤ STATISTIK ¤ BILDER
Uhrwerk Orange - Jubel, Drama und Tränen im Ziel
 
 
Folgte in Rotterdam unser 42. Frühling? 42 Lenze hatten wir schon hinter uns. So viele wie Marathon an Kilometern hat. Mindestens. Eigentlich sollte nach KANDEL Schluß sein. Aber mit dem Siegesrausch (Vitus) und der Lektion (Peanut) aus dem Bienwald, wollten es die jungen Gefühle, daß wir nun doch zur Jubiläumsaustragung No. 30 im Oranjeland fahren. Rotterdams erster Marathon fand jedoch nicht vor dreißig Jahren, sondern bereits vorm Krieg statt. Schon 1937, und dann noch mal 1950, wurde zwischen der Sintelbaan und Nieuewerkerk längs der Ijssel der niederländische Meister ermittelt. In den Sechzigern lief man den Marathon erst im Kralinger Wald, bis es an einem verregneten Tag im Mai 1981 zur ersten Austragung des bis heute währenden Marathons auf dem Rundkurs durch die Stadt kam.
 
Für Rotterdam mußten wir nichts anderes als die zur gleichen Zeit stattfindende Doomkonferenz „Doom Shall Rise“ aufgeben. Wir waren innerlich derart zerrissen, das wir wochenlang nur von Göppingen oder Rotterdam? und Rotterdam oder Göppingen? reden konnten. Peanut hat sogar davon geträumt! Und dabei ist die nach einem Damm am Fluß Rotte benannte Stadt gar kein Ort für Träume. Rotterdam ist seit eh und je der buntgemischte Hafen Europas. Nach Rotterdam fährt man nicht für Erquickungen, sondern um schnell zu laufen - und wieder zu verschwinden. Über 20
 000 bringen sich jedes Jahr im April vorm einzig kriegsverschonten Gebäude - dem Rathaus an der Ringstraße Coolsingel - in Stellung. Eine Hälfte verabschiedet sich nach zehn Kilometern, die andere (alles flinke Hunde!) will so schnell sie kann 42,195 Kilometer laufen. Alles andere zählt nicht in Rotterdam.
 
.:: DIE STRECKE ::.
Flach wie ein Brett ist dieser Marathon. An drei Stellen liegt die Strecke sogar bis zu zwei Meter unter dem Meeresspiegel. Start und Ziel sind auf der breiten Straße Coolsingel. Gleich zum Auftakt erreicht die Route auf dem Scheitel der kühnen Erasmusbrücke ihren höchsten Punkt. Die Maas überschritten, geht es durch die Wolkenkratzer von „Maashattan“ und „De Kuip“, die Kampfbahn von Feyenoord, wird passiert. Über eine weite Schlinge durch die südlichen Stadtteile wird nach 21 Kilometern der Maashafen gestreift und die Strecke führt zurück über die Erasmusbrücke ins Zentrum. Eine Runde im Kralingenwald im Norden bildet den ruhigen Kontrast vor dem großen Finale. Alles endet, wo es begann: auf der Coolsingel. Dort wird der letzte Läufer vom Sieger als erstem Gratulanten erwartet. Rotterdam steht für ein lockeres Fluidum mit Zuschauern und Kapellen in unabsehbarer Zahl am Rande. Legendär machen den Wettstreit seine phänomenalen Zeiten. Die große Unbekannte ist indes der Wind, der in dieser Gegend heftig wehen kann. Der Streckenrekord datiert aus dem Jahr 2009. Damals lief der Kenianer Duncan Kibet 2:04:27 Stunden. Dreimal wurde der Weltrekord gebrochen:
 
   1985 - Carlos Lopez (Portugal) 2:07:12
   1988 - Belayneh Dinsamo (Äthiopien) 2:06:50
   1998 - Tegla Loroupe (Kenia) 2:20:47
 
Virtuelle Streckenführungen
Parcours Video
GPSies
 
.:: DIE VORBEREITUNG ::.
Rotterdam war die Fortsetzung zum Bienwald-Marathon. Nach den 14 Wochen für Kandel haben wir uns die Lungen um vier weitere aus dem Leib gerannt.
 
Ein Trainingsbeispiel - die Gipfelwoche vom 8. bis 14. Februar 2010:
 
Mo.: 18 km Steigerungslauf in 2:03 Std.
Di.: 31 km Dauerlauf in 3:00 Std.
Mi.: 20 km mit 3 x 4000 m auf vereistem Boden zwischen 18:20 und 19:30 Min.
Do.: 26 km mit 12 x 1000 m in 4:00 Min.
Fr.: 7 km lockerer Dauerlauf
Sa.: 40 km langer Dauerlauf mit Endbeschleunigung in 3:23 Std.
So.: 20 km mittlerer Dauerlauf in 2:03 Std.
Jeden Abend folgte eine zweite Einheit zur Rumpfstabilisierung und Kräftigung der vorderen und hinteren Oberschenkel, dazu tägliche Dehnung.

 
Die bestrittenen AUFBAUKÄMPFE (Klick auf das jeweilige Veranstaltungsemblem öffnet den Laufbericht):
31. SPIRIDON-SILVESTERLAUF FRANKFURT, 27.12.09
(10 km)
33. ALTEN-BUSECKER WINTERSERIE, 23.1.10
(Halbmarathon)
33. HALBMARATHON DER SKV MÖRFELDEN, 7.2.10
33. SELIGENSTÄDTER WINTERSERIE, 20.2.10
(10 km)
35. BIENWALD-MARATHON KANDEL, 14.3.10
Vitus´ 16 TRAININGSWOCHEN vom 21. Dezember 2009 bis 11. April 2010:
 
01. Wo. (110 km): 10-Kilometer-Wettkampf (39:08)
02. Wo. (151 km): Training
03. Wo. (130 km): Training
04. Wo. (153 km): Training
05. Wo. (115 km): Halbmarathon (1:25:40)
06. Wo. (143 km): Training
07. Wo. (130 km): Halbmarathon (1:25:09)
08. Wo. (162 km): Training
09. Wo. (134 km): 10-Kilometer-Wettkampf (39:18)
10. Wo. (160 km):
Training
11. Wo. (130 km):
Direkte Wettkampfvorbereitung
12. Wo.
0(85 km): Aktive Erholung - BIENWALD-MARATHON (35. in 2:56:23)
13. Wo.
0(84 km): Wiederherstellung
14. Wo. (150 km): Training
15. Wo. (131 km): Direkte Wettkampfvorbereitung
16. Wo.
0(88 km): Aktive Erholung - ROTTERDAM-MARATHON (276. in 2:52:47)
Gesamt: 2056 km
 
.:: DAS RENNEN ::.
 
30. FORTIS MARATHON ROTTERDAM, 11. April 2010
Donnerstag, 8. April
 
Die Geschichte begann mit einer schweren Entscheidung. Sollten wir zum „Doom Shall Rise“ fahren (stets eine heilige Pflicht), oder zum 30. Rotterdam-Marathon (mit ungewissem Ausgang)? Nächtelang hatte ich kein Auge zubekommen. Meine Gefährten vom Doom halfen mir, sagten, was ich tun soll... Arvid von Space Pilgrim war der Erste: „Die Leser meiner Frontberichte würden das Nichtdabeisein in Göppingen zwar schade finden, aber wenn Rotterdam so legendär und somit ein Lebenshöhepunkt sei, wäre der Fall doch klar.“ Pim von den Rotterdoomern Officium Triste munterte mich mit „It's always a good vibe in R´dam“ und „Good luck with the marathon“ auf. Cindy vom Metalclub „Baroeg“ wiederum, auch Doom-Shall-Rise-Besucherin seit 2003, hatte mich informiert, daß ihre Kollegen ein kleines, aber lautes Schlagzeug auf den Spinozaweg (Streckenkilometer 10) stellen würden. Und ich sollte ihr unbedingt von meinem Ergebnis schreiben. Der letzte Schicksalsbote war unser Doomfreund Micha, der uns in Göppingen zwar vermißte, aber auch „maximalen Erfolg“ für Rotterdam wünschte... Die inneren Kämpfe tobten bis zum Frankfurter Hauptbahnhof. Bis dahin stand für uns in Göppingen immer noch ein Notbett bereit. Erst mit der Abfahrt des Zuges entschied sich, wohin die Reise ging: nach Oranjeland. Nach fünf Stunden - wovon wir die letzte wie Landstreicher mit Sack und Pack am Boden eines überfüllten Pendlerzugs saßen - war Rotterdam erreicht. Als Herberge für die kommenden Tage diente eine der winzigen Kammern im „Maritime“, das wir von den Dutch Doom Days 2007 kannten. Drei Monate später wurden auf dem Vorplatz im Stil römischer Gladiatoren die 22 Mannschaften mit je neun Fahrern zur Tour de France vorgeführt. Beim Prolog sollte Cancellara siegen... Nach einem Lockerungslauf über die giftgrün ausgeleuchtete Erasmusbrücke lagen wir Mitternacht im Bett.
 
Freitag, 9. April
 
Nachts um halb vier riß mich eine undefinierbare Sehnsucht nach dem Doom Shall Rise aus dem Schlaf. Eine Stunde lag ich glockenwach und dachte über eine Abreise nach. Wir wären rechtzeitig zum Festival in Deutschland zurück gewesen. Eine höhere Vorsehung hatte mit mir etwas anderes vor... - Mittags haben wir die im Beurs-Gebäude untergebrachte Marathon Sport Expo abgeklappert und die Startunterlagen sichergestellt. Ferner wurde jeder Läufer in das erstmals zur Anwendung kommende Zeitmeßsystem „D-Tag“ eingewiesen. Dabei handelte es sich um einen D-förmig zu biegenden Plastikstreifen, der den bewährten gelben Chip in der Schuhschnürung ersetzte. Diese Technologie erzeugte großes Mißtrauen und die handbreit über den Asphalt ragenden Datenschächte waren die reinsten Stolperfallen. - Ein guter „Koffie verkeerd“ in einem Sonnencafé an der Maas und ein Parklauf unterm Euromast beschlossen den Tag.
 
Sonnabend, 10. April
 
Mit Unterbrechungen hatte ich acht Stunden Ruhe bekommen - viel wie seit Wochen nicht mehr! Neben einer lockeren Vorbelastung über die Erasmusbrücke und dem Richten des D-Tags galt alle Aufmerksamkeit dem letzten Mahl vorm Marathon, daß wir wie immer auf einem mitgeschleppten Feldkocher zubereiteten. Während ich es bei Reis mit etwas Amaranth beließ, hoffte Peanut zusätzlich noch auf die Mineralien aus einer Tomatensauce und einem Rohkostsalat. Allerdings ging dieser Schuß nach hinten los. Ferner haben wir allen Hokuspokus der Chemielabore um „Carboloader“ und basische Pulver verschmäht. Nieder mit dem Schund!
 
Sonntag, 11. April
 
Goedemorgen
ROTTERDAM! Nur 28 Tage nach Kandel kam es für uns zu einer neuen Schlacht über die Marathonstrecke. Um 5.45 Uhr war ich munter. Sechseinhalb Stunden Schlaf: das war bombastisch! Um sieben habe ich meine Freundin geweckt und mich auf einen leichten Morgenlauf gemacht. Am Himmel war Wolkentreiben, die Marathonfahnen knatterten waagerecht und über die Erasmusbrücke blies frostiger Wind. - Bei der Rückkehr aufs Zimmer klagte Peanut über Schüttelfrost, Bauchkneifen und Dünnschiß. Der verdammte Salat... Aber sie wollte in jedem Fall laufen! Zur morgendlichen Lagebesprechung hatten wir Tee und Peijnenburg Groninger Koek (Honigkuchen mit Früchten), der mit Pindakaas (Erdnußbutter), Banane, Moosbeeren und Honig belegt war. - Um 9.15 Uhr sind wir mit der Metro vom Leuvehaven zum Hauptbahnhof gefahren, wo es 600 Meter vom Start entfernt in den Colleges von „Albeda“ und „Zadkine“ Möglichkeiten zum Umziehen gab. Mangels Wegweiser hatten wir uns anderen Läufern angeschlossen und so kurz vor zehn Uhr zu einem Zelt im Hof des Zadkine gefunden. Dort wiederum hat man seine Sporttasche einfach unter der Bank Zelt deponiert - und es wurde nichts gestohlen. Zwanzig Minuten vorm Start haben wir uns zur Coolsingel aufgemacht.
 
Auf dem Platz Hofplein fand die Trennung nach Start-Sektionen statt. Peanut war der Sektion E zugeteilt, ich der Sektion C. Gemäß einer Einweiserin sollten wir uns links einreihen. Derweil Peanut ziemlich unbehindert zu ihrer Box durchkam, mußte ich noch dreihundert Meter über den Gehweg weiterziehen - und der war voller Zuschauer! Panik!... Nur mit vollem Körpereinsatz war ich vier Minuten vorm Peng durch den Tumult zum letztmöglichen Tor zum Starterfeld vorgerückt. Jenes war aber nicht das zu Sektion C sondern zu R - und „R“ stand für „Relay“ (Staffeln)! „C“ lag auf der anderen Straßenseite - hinter einem hohen Absperrgitter! Während ich schon mit einem Start im falschen Wettkampf haderte, stimmte ein dicker Mann aus einem Kran heraus die Hymne „You´ll Never Walk Alone“ an, und viele tausend Kehlen stimmten ein. Rund 23
 000 Lopers aus 60 Nationen, davon 12 456 klassiche Läufer, hatten bei kalten Winden Stellung bezogen, als das Stadtoberhaupt zusammen mit Rennleiter Kadiks um 11 Uhr die antike START-Kanone abfeuerte.
Erasmusbrücke 2010 (© Vitus)
Kilometer 0 bis 10: Vom Centrum über die Erasmusbrug vorbei an „De Kuip“ nach Feijenoord
 
Der Mythos Coolsingel war zu schmal. Obwohl auf breiter Front gestartet, verlief der Auftakt zäh. Fremdkörper hatten sich vorn reingemogelt. Mit 4:20 Minuten war der erste Kilometer für mich um eine halbe Minute verhunzt. Vielleicht sollte das so was wie eine späte Vergeltung sein. Schließlich hatten deutsche Luftkrieger Rotterdam im Mai 1940 kurz und klein gemacht, und damit die Niederlande zur Kapitulation gezwungen. Fast auf den Tag genau 70 Jahre später waren wir als deutsche Marathonläufer wieder da, wo ein Feuersturm alles verwüstete. Aber heute war die ganze Stadt auf den Beinen, um uns anzufeuern. Eine Million soll an der Strecke gewesen sein. Wenn nicht aus Rotterdam, so waren sie aus einer anderen Gemeinde gekommen. So groß ist Holland ja nicht. Der Lauf passierte den Löwenhafen und erreichte auf dem zweiten Kilometer die futuristische, vom Volksmund auf den Namen „Schwan“ getaufte Erasmusbrücke. Nach 800 Längen- und 18 Höhenmetern war die Maas überschritten und die Halbinsel Kop van Zuid (Kopf des Südens) erreicht. Die Einheimischen reden auch vom „Manhattan an der Maas“, denn hier wachsen unentwegt neue Wolkenkratzer aus der Erde. Die Strecke bog um das frisch errichtete, höchste Haus der Niederlande, den Maastoren. Auf der Hauptverkehrsstraße Laan op Zuid vereinigte sich die linke und rechte Spur der Coolsingel zu einem Heerwurm, und nach fünf Kilometern war „De Kuip“ erreicht. Mit einem Unentschieden hatte Feyenoord heute auswärts dem PSV Eindhoven die Champions League vermasselt. Über Stadion- und Olympiaweg war der 10-Kilometer-Punkt erreicht. Für mich ein wichtiger Punkt. Meine Durchgangszeit von 40:27 Min. war ein früher Erfolg, der mir viel Druck nahm und den weiteren Lauf beruhigte. Links war das Poppodium „Baroeg“ zu sehen, wo wir vor drei Jahren das Festival „Dutch Doom Day“ erlebten. Rechts standen Tische. Neben Schwämmen und Wasser wurde alle fünf Kilometer das Fliegerbier Extran Refresh verteilt, dazu am Kilometer 20 das höher konzentrierte Extran Energy in orange. (In Kombination mit einem Kohlenhydratgel bin ich damit gut durchgekommen.)
 
Kilometer 11 bis 20:
Eine Schlinge durch den Zuiderpark
 
Licht, Luft und Weite: So ließe sich der weitere Verlauf am besten charakterisieren. Die Route lief nun in einer weiten Schlinge durch den Zuiderpark. Niedrige Häuserzeilen begrenzten die Strecke zuweilen, und mit dem „Ahoy“ wurde die größte Hallenkonstruktion von Europa passiert. Keine Zeit indes für erquickende Betrachtungen! Manchmal blitzte heiß die Sonne auf, doch sobald sie wieder verschwand, war es wieder fast winterlich kalt. Fünf Kilometer mußten auf hartem Asphalt im stillen Grün durchgehalten werden. Allerdings war das Gelände völlig eben, es wies absolut keine Erhöhungen auf. Damit ließ sich auch ein raumgreifender Schritt laufen - der mich in einen vorübergehenden Schwächeanfall stürzte. Erste Schmerzen in den Muskeln hatten für ein Gefühl der Beunruhigung gesorgt. Aber ich war nie allein. Überall standen Musikkapellen und Zuschauergruppen. Manche schrien mir „Chicago“ zu: Chicago stand auf meiner Brust. Das Trikot hatte ich beim Marathon in Amerika erstanden und trug es heute zur Tarnung. Vielleicht lag im Wort „Chicago“ auch ein wenig vom Fernweh nach dem gelobten Land, welches die Niederländer wohl inne haben. Die Zuschauer waren mehr als nur ein Motor für mich! Zwanzig Prozent meiner Leistung gehen auf die Rotterdammer, die im Süden besonders jung schienen.
 
Kilometer 21 bis 30:
Von Charlois über Katendrecht und die Maas ins Centrum nach Noord
 
Mit 1:25:37 Stunden hatte ich bei Halbmarathon eine Zwischenzeit abgeliefert, die mir bisher nur bei einem bestens präparierten Halbmarathonrennen möglich war. Aber heute war Marathon und somit lag dieselbe Entfernung noch einmal voraus! Die Brieselaan zog sich nun durch ein eher häßliches Viertel. Hinter alten Lagerhäusern und Handelsgebäuden gab die Strecke einen Blick auf den Maashafen und die Halbinsel Katendrecht mit dem Rotlichtviertel frei. Weit wichtiger als das Verruchte auf der Brieselaan war allerdings die steife Brise aus Nordost. Gegenwind! Zunutze kam mir jetzt die Gegenwart von Läufern. Denn in Rotterdam wurde wie in einem Radrennen Windkantenstaffel gelaufen! Mit 20:55 Min. waren die fünf Kilometer zum Kilometer 25 meine langsamsten im ganzen Rennen, aber durch den Windschatten noch im Rahmen gehalten. Die Erasmusbrücke führte nun zurück auf die Nordseite der Maas. Direkt am Brückenkopf lag unser Hotel - aber keine Versuchung hier die Waffen zu strecken! Der Kurs führte wieder über die Coolsingel und unterquerte selbige nach einer Spitzkehre auf der Promenade Blaak. Im Straßenzug der Warande stürmten mir auf der Gegengerade die Nummern 3 und 5 auf der Brust entgegen. Während Kenias Makau und Mutai schon die Marke „40“ passiert hatten und mit Höllentempo dem Ziel entgegenflogen, näherte ich mich erst dem 30. Kilometer. Das war ein ziemlicher Dolchstoß in die Moral! Erschwerend bot dieser Punkt auch noch eine leichte Steigung, die wie ein Einstieg in den nachfolgenden, grundverschiedenen Streckenabschnitt war...
 
Kilometer 31 bis 40:
Rund um den Kralingensee
 
Ganz im Norden der Stadt verabschiedete sich das Asphaltband in die Natur und verlief durch den Wald von Kralingen rund um den Kralinger See (oder „Plas“ - wörtlich übersetzt: die „Kralinger Pfütze“). Der Weg lief neun Kilometer weit in landschaftlich schöner Gegend am Wasser, an Stränden und Bootsanlegern entlang durch lichten Wald. Die Straße war brettflach, kerzengerade und pfeilschnell. Mit dem Erreichen eines kanalisierten Flüßchens und der ersten Siedlungshäuser an der Kralingse Plaslaan waren auch wieder massive Anfeuerungen zu genießen. Rock- und Jazzkapellen hämmerten ihre Vibrationen in den Läuferwurm. Auf keiner Strecke der Welt sind so viele Kapellen zu verorten wie in R´dam. Die Musikanten, das Publikum und der rasende Puls der Marathonläufer ergaben den HEARTBEAT OF ROTTERDAM! Nun konnte ich auch das Maximum an Leistung herausholen. Jetzt wußte ich, daß die Muskeln nach Kandel keine Schäden genommen hatten. Die Standfestigkeit durch den noch frischen Marathon erlaubte mir einen entfesselten Durchmarsch, in dessen Verlauf ich noch zwei Dutzend zur Strecke brachte, darunter einen aus dem roten Schnellzug der „Hardloopwinkel“-Männer, der mir dreißig Kilometer zuvor die Hacken gezeigt hatte. Am 40. Kilometer waren die Zuschauer wieder der helle Wahnsinn. Wenngleich ich hier auch großes Mitgefühl mit Peanut haben mußte. In der gleichen Art wie die Begegnung mit den Spitzenreitern, verlief in der Warande die Begegnung mit der eigenen Freundin. (Peanut hatte mich im lichten Vorderfeld gleich entdeckt und gewußt, daß ich Rekord laufen würde. Das gab ihr auch den Glauben in die eigene Kraft.)
 
Kilometer 41 bis 42,195:
Von Kralingen zurück zur Coolsingel
 
So ging es in den Endkampf. Mit den surreal gekippten Kubuswohnungen, die wegen ihrer Pfahlform den Spitznamen „Het Blaakse Bos“ (der Blakenwald) tragen, und der hochmodernen Bahnstation „Blaak“ zog R´dam noch mal alle Register in Sachen Neuer Architektur. Der Hexenkessel der Coolsingel war für mich der phantastischste auf der ganzen Welt! Eine Bestzeit unter den Türmen vom Rotterdammer Rathaus? Im kühnsten Traum hatte ich mir 2:54 Stunden ausgemalt. Aber durch den noch jungen Marathon von Kandel wäre ich auch mit jeder anderen von einer „2“ angeführten Zeit hochzufrieden gewesen. Daß am Ende 2:52:47 Stunden standen, war ein WUNDER. Rotterdam 2010 war der Marathon meines Lebens! Dieser Erfolg ist nicht wiederholbar. Unter 12
 456 hochtrainierten Gegnern rangierte ich auf Gesamtplatz 259. In der Nationenwertung war das die achte Stelle von Deutschland.
 
Die Dominanz hatte Kenia ausgeübt. Bis zur Halbzeit auf Weltrekord liegend, siegte der Youngster Patrick Makau Musyoki mit der viertschnellsten Zeit der Marathongeschichte von 2:04:47 Stunden. Die Landsmänner Mutai (fünftschnellstes Marathonergebnis aller Zeiten) und der letztjährige Paris-Sieger Kipruto vervollständigten den Dreifachsieg. Seit 2010 hat Rottderdam wieder den schnellste Marathonkurs der Welt! Fünf der zehn besten Zeiten wurden auf der Coolsingel erkämpft! Nur der Wind konnte einen Weltrekord verhindern. Bis zum Halbmarathon lagen dreißig Ostafrikaner eng zusammen. Im Kralinger Wald hatten sich noch immer zehn Athleten auf hohem Niveau befightet, die schließlich der 20jährige Lelisa aufsprengte. Nachdem der große Favorit James Kwambai nie so recht in Erscheinung getreten war, und Kipruto anhalten und sich seiner Innensohlen entledigen mußte, waren es nur die drei Kenianer, die dem blutjungen Äthiopier folgen konnten. Schnellster Fliegender Holländer - und damit Meister seines Landes - wurde als Neunter Koen Raymaekers in 2:11:09 Stunden. Kwambai quälte sich nach 2:24:07 Stunden abgeschlagen als Zwanzigster ins Ziel. Bei den Frauen trug sich Kebede aus Äthiopien in die Siegerliste ein.
 
Wie der Siegesrausch ist auch die Pechmarie Teil eines Sportlerlebens. Peanut traf sie diesmal besonders grausam. Mit einer leichten Lebensmittelvergiftung und Durchfall fing der Tag für sie schon schlecht an. Dann wurde sie in der Start-Sektion von langsameren Läufern eingeklemmt und hatte - gewarnt von Kandel - zu vorsichtig begonnen. Dazu provozierten die Läufer im Mittelfeld durch das Stoppen ihrer Uhr an jeder Zwischenzeitmarke Staus, und verhinderten damit einen gleichmäßigen Schritt. Auf der Coolsingel war Peanut von einem bizarren Fahrradunfall, und bei Kilometer 39 von einem reglos im Staub Liegenden samt einer Schar aufgeregter Sanitäter verschreckt worden. Am 40. Kilometer wußte sie, daß es für eine Zeit unter vier Stunden eng wird. Den letzten Kilometer ist sie um ihr Leben gerannt. Am Schild „100 meter“ hätte sie aber fliegen müssen. Mit 4:00:08 fehlten neun Sekunden oder 26 Meter zur magischen Marke. Zu einem Erfolg im Marathon gehört neben Leidenschaft und Willen leider immer auch ein gütiges Geschick. Die amtlich Letzte im ZIEL - Vrouw Pompen aus Rotterdam - bekam nach 5:38:35 Stunden vom Sieger persönlich die Plakette umgehängt. Makau sagte sinngemäß und voller Ehrfurcht, daß „die Zeit egal sei, größer sei das Durchstehen der Distanz.“
 
Unmittelbar nach der Linie konnte ich mein Blitzmädel (und das bleibt es für immer!) hinter der Absperrung entdecken. Ein Umhang, so schwarz wie Pech gegen das Auskühlen, eine Rose, so weiß wie Schnee, ein Becher Wasser und die Medaille: Das war der Lohn für ihre Anstrengung. Kurz danach verloren wir beiden uns im allegmeinen Trubel aus den Augen. Während ich zum Umkleidezelt ging und dort wartete, rief Peanut verzweifelt im Hofplein nach mir, und ist dann bei der Kälte nur knapp bekleidet zurück ins Hotel gelaufen. Als ich nach einer kleinen Unendlichkeit unser Zimmer betrat, lag sie wie ein Häufchen Elend bitterlich weinend auf dem Bett, neben ihr die Rose. Sie hatte genauso verzweifelt nach mir gesucht wie ich nach ihr. Dieses Bild gehört zu den ergreifendsten Erinnerungen meines Lebens. Es hat mir schier das Herz zerrissen. Es hat alles ÜBERSCHATTET!
Der Kampf in einer BILDERTAFEL... anklicken............
FAZIT
 
Strecke:
Die Bodenerhebungen sind äußerst gering. Die zweimal zu bewältigende Erasmusbrücke ergab 36 Höhenmeter, der Rest der Strecke kam auf 28 Meter. Insgesamt hat Rotterdam also 64 Höhenmeter. Flacher geht´s also kaum. Zudem führt die Route über glatten Asphalt und ist fast ohne Richtungswechsel - aber auch schützenden Bäumen! Damit können Sonne und Wind alles zunichte machen! Neben der speziellen Zeitnahme mit dem Plastikstreifen „D-Tag“ kamen die mit Schwammdeckel bestückten Trinkbecher „Smart Drinking“ zum Einsatz. Organisation: Der Geburtstag wurde nicht gefeiert. Die im World Trade Center ausgerichtete Marathonmesse war auf kleinster Fläche im Parterre untergebracht. In den Startertüten lagen nur die Startnummern für Brust und Rücken, acht Nadeln und ein Blasenpflaster. Alle Auskünfte waren ausschließlich in der schönen neuen Digitalwelt abrufbar. Es war nichts auf Papier gedruckt: weder die Wettkampfausschreibung, noch Streckenpläne oder Programmhefte - nichts! Als Vorabendveranstaltung war im sogenannten „Krähennest“ des Ausguckturms Euromast eine Pastafete organisiert. „Schlicht“ ist noch eine milde Umschreibung der Marathonplaketten. Dafür wurden die persönlichen Bilder vom Lauf im Netz frei zur Verfügung gestellt. Bei einem Startgeld zwischen 40 und 62 Euro sollte man vielleicht auch nicht mehr erwarten? Wirklich auf Zack waren die Uniformierten, die einem fast den Zugang zum eigenen Kleiderbeutel verwehrten. (Ein Zutrittsverbot für Zuschauer zur Wettkampfzone wäre indes nötiger gewesen!) Ausstrahlung: Das Publikum machte wett, was die Ausrichter einsparten. Wenn die Majors von Millionen am Straßenrand reden, traf das auch auf R´dam zu. Zu den 600
 000 Rotterdammern kamen noch mal 400 000 Holländer dazu. Auch wenn man auf Schritt und Tritt auf Ressentiments traf - besser nicht als Deutscher offenbaren, selbst wenn man als Sportler kommt! -: Die Wirkung war verdammt elektrisierend und einmalig! Für die Materialinteressierten: Frau lief mit Asics Gel-3010, Mann mit Adidas adiZero Boston.
POST-MARATHON-KULTUR
 
Gleich nach dem Kampf hatte sich alles im Wind verloren. Eine Abschlußzeremonie gab es nicht. Nach einem Sechserträger „Wieckse Witte“ im Hotelzimmer und einem Biertje bei Barmann Johnny im Seemannshaus sind Peanut und ich noch mal unter die Leute. Erst zu einem Abendessen zwischen Feierwütigen in der Hafenkneipe „Ballentent“. Danach auf ein Konzert im Klub „Exit“:
...... Subhumans und Speckneck
 
Montag, 12. April
 
Der Tag der Abreise stand im Zeichen eines überraschenden Wiedersehens: Karsta und Oliver aus Berlin, die wir seit New York City 2008 kennen, waren wieder mal auf denselben 42 Kilometern unterwegs gewesen. Und das mit ihren Standardzeiten von 2:58 und 3:03 Stunden. Karsta hatte die Kategorie V45 gewonnen! Wir trafen uns im Andenkenwinkel auf der Coolsingel. Einige Biertjes halfen, den Abschied und Rückweg nach Deutschland besser zu ertragen.
 
Kampfläufer Vitus dankt
Den Männern und Frauen, die uns zu ROTTERDAM überredet haben
Marathona Peanut (Muß eine Hellseherin sein! Auf einer an mich gerichteten Ansichtskarte stand die Ziffernfolge „2:52“...)
 
Treu dem Rotterdamer Wappenspruch Sterker door Strijd (Stärker durch Kampf)...
 
 

Kampfläufer Vitus, 16. April 2010
 
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: Sonne und Wolken, 8 bis 10ºC, mäßige bis frische Nordostbrise (Stärke 4), 74 % Luftfeuchte
Zuschauer: ca. 900
 000 (ganz Rotterdam und 300 000 mehr)
 
Marathonläufer am Start:
12
 456
Marathonläufer im Ziel:
7856 (M: 6598 / W: 1258)
10-km-Läufer im Ziel: 4623
05-km-Läufer im Ziel: 1437
01-km-Läufer im Ziel: 0559
0Staffeln im Ziel: 590
 
Männer
1. Patrick Makau Musyoki (Kenia) 2:04:48 (WJB)
2. Geoffrey Mutai (Kenia) 2:04:55
3. Vincent Kipruto (Kenia) 2:05:13
4. Feyisa Lelisa (Kenia) 2:05:23
5. Bernard Kipyego (Kenia) 2:07:01
6. Francis Kiprop (Kenia) 2:08:53
 
Frauen
1. Aberu Kebede (Äthiopien) 2:25:29
2. Magdalena Lewy Boulet (USA) 2:26:22
3. Zhu Xiaolin (China) 2:29:42
4. Jewgenia Danilowa (Rußland) 2:31:44
5. Beatriz Ros (Spanien) 2:32:28
6. Alina Istudora (Rumänien) 2:33:36
 
Kampfläufer Vitus (Spiridon Frankfurt)
Startnummer:
1018
Nation: Deutschland
Zeit: 2:52:47 (
PB)
Platz:
259 von 12
 456 Gesamt
Platz: 36 von 1300 in Klasse M45
Zwischenzeiten
05 km: 0:20:18 (20:18)
10 km: 0:40:27 (20:09)
15 km: 1:00:34 (20:07)
20 km: 1:20:52 (20:18)
HM: 1:25:37
25 km: 1:41:47 (20:55)
30 km: 2:02:21 (20:34)
35 km: 2:23:25 (20:44)
40 km: 2:43:53 (20:48)
Geschwindigkeit: 14,652 km/h
 
Peanut (Frankfurt)
Startnummer:
F504
Nation: Deutschland
Zeit:
4:00:08
Platz: 4651 von 12
 456 Gesamt
Platz: 87 von 267 in Klasse W45
Zwischenzeiten
05 km: 0:27:53 (27:53)
10 km: 0:55:53 (28:00)
15 km: 1:23:51 (27:58)
20 km: 1:51:39 (27:48)
HM: 1:58:21
25 km: 2:20:27 (28:48)
30 km: 2:48:45 (28:18)
35 km: 3:17:32 (28:47)
40 km: 3:47:46 (30:14)
Geschwindigkeit: 10,543 km/h
 
Ergebnisse

Uitslagen