7. VELORACE DRESDEN
11. August 2019
STRECKE ¤ RENNEN ¤ STATISTIK
Prolog
 
ACHTUNG LEBENSGEFAHR! hieß es für das Velorace Dresden. Außer Benedix und mir hatten alle Männer des Dresdner SC ihren Start abgesagt oder verweigert. Zum einen aufgrund der Meldegebühr von 55 bis 77 Euro, vor allem aber wegen eminenter STURZGEFAHR: Die hohe Renngeschwindigkeit, der winklige Kurs, zahllose Gefahrenstellen und viele Rennradfahrer, die nicht fahren können hatten in den Vorjahren für Hektik in so einem großen Peloton gesorgt - mit katastrophalen Folgen... Für mich war das Velorace das zweite groß angelegte Rennen nach Eschborn-Frankfurt. Ein Jedermannrennen über 103 Kilometer, in dem es nichts zu gewinnen, nur zu verlieren gab... Aber Dresden ist die Heimat! Und: Endlich wieder mal ein „richtiges“ Straßenrennen über hundert Kilometer! „Erfunden“ wurde das Velorace von Wolfgang Friedemann, seit den frühen Sechzigern Altvorderer meines Ex-Klubs Dynamo Dresden-Nord, zusammen mit „Decko“ Deckert nach der Wende Mitgründer des Folgeklubs Dresdner SC, und Chef der internationalen Sachsen-Tour - aus der das Velorace hervorging. Der stilisierte Pedaleur lebt im Banner vom Velorace weiter...
 
.:: DIE STRECKE ::.
Schöner konnte ein Radrennen kaum beginnen! Vor der Frauenkirche, dem wiederaufgebauten Wahrzeichen aus dem Barock, begann das Velorace. Auf das Peloton warteten danach Schlag auf Schlag Bilder wie vom Kitschpostkarten: Brühlsche Terrasse, Dampfschiffe, Schloß, Kathedrale, Semperoper, Rudolf-Harbig-Stadion, Großer Garten, Waldschlößchen, Elbtal, Blaues Wunder, Terrassenufer... Eine Schleife des Stadtrundkurses maß 21 Kilometer. Das relativ einfache Profil ließ die Fahrer regelrecht fliegen; die Geschwindigkeiten liegen weit über 40 Stundenkilometer im Schnitt. Aber sie bekamen es mit verengten Straßen, finsteren Tunnels, Bordsteinen, Kopfsteinpflaster, Schlaglöchern, Straßenbahnschienen und Überrundeten zu tun... Höchste Radbeherrschung war gefragt! Neben der Königsdistanz über 103 Kilometer standen Rennen über 62 Kilometer, 42 und 21 Kilometer zur Auswahl. In den Rahmenkämpfen wurde der 1. Dresdner Straßensprint mit einem 2-Kilometer-Zeitfahren und anschließendem Sprintduell ausgetragen. Für Speedfreaks!
 
.:: DAS RENNEN ::.
Nachdem ich mich schon ewig in der Elbestadt aufhielt und mit zwei DSC-Cups auf der Rennbahn in Heidenau, einem Kriterium in Mügeln und einem 175-Kilometer-Kanten durch die Tschechei in Schuß gebracht hatte, beschloß auch noch mein Mädel Peanut, sich zwei Tage vorm Rennen extra fürs Velorace auf die lange Reise von Frankfurt nach Dresden zu machen. Sie wollte mich endlich mal bei einem Radrennen sehen... Am Sonnabendmittag erschienen wir zusammen zur Ausgabe der Startunterlagen samt Lenkernummer mit Transponder im Dresdner Verkehrsmuseum. Draußen auf dem Markt saß ein gutgelaunter Herr Friedemann auf einer Bank in der Sonne und er hatte alle Zeit der Welt für ausgiebige Unterhaltungen. Jemand brachte uns kühle Getränke aus Oppach vorbei. Die Stunden vorm Rennen verliefen ruhig. Ein Wecker für den Sonntag war nicht vonnöten: Wir wohnen drei Kilometer vom Start an der Frauenkirche entfernt, und der erfolgte erst am Mittag. Mit einer Meldezeit von 41 Stundenkilometern war ich dem ersten von sechs Startblöcken zugewiesen, dem Block A. Da ich es wie so oft in letzter Sekunde zur Aufstellung schaffte, und ringsherum schon alles dicht war, stellte ich mich - Frechheit siegt bekanntlich - vor die erste Reihe. Dort entdeckte ich auch noch einen Splitter im vorderen Pneu, der mit ziemlicher Sicherheit zu einem Platten geführt hätte. Zwei Meter entfernt gab Staatsministerin Klepsch um 11 Uhr 55 bei hochsommerlichen Temperaturen den fiktiven Start für die 490 Fahrer der Langdistanz frei. Eine Armada Kameraleute stob zur Seite...
Neutralisiert und trotzdem hoch nervös ging es bei hochsommerlichen Temperaturen vom Neumarkt über den Hasenberg runter aufs Terrassenufer, wo der Chef Wolfgang Friedemann aus dem Führungsfahrzeug heraus die Pistole zum scharfen START abfeuerte. Von Anfang an wußte ich, daß es knallen wird. Zu viele Fahrer, zu wenig Platz. Rund sechzig stoben von der Unterführung der Augustusbrücke hinauf zum Italienischen Dörfchen davon. Der Stampede entwischen war die beste Lösung. Eine Mordsangst wie zum Auftakt des Velorace, hatte ich in keinem Radrennen zuvor. Schon da war mir klar, daß es mein einziges Velorace bleibt. Peanut wußte, daß ich ganz rechts fahre, und dort hielt ich mich auch hartnäckig aus vielen hochgradig heiklen Situationen raus. Sie stand drei Runden lang im kleinen Anstieg zur Marienbrücke, die zwei letzten im Ziel am Terrassenufer. Nach den ersten von vielen Schienenquerungen am Bahnhof Mitte ging es in den unbeleuchteten Tunnel unterm Wiener Platz, auch „Wiener Loch“ genannt. Durch das hohe Tempo, mit dem das Peloton in die Senke hinein- und hindurchschoß, kam es in der ansteigenden Ausfahrt zu kreuzgefährlichen Stockungen. Wahnsinn, allein der Gedanke an einen Unfall in der finsteren, nur mit kleinen Bodenstrahlern markierten Röhre... Heil im Licht angelangt, jagte die Menge weiter in Richtung Rudolf-Harbig-Stadion. Mein Klubkamerad Benedix schloß mit einem Wink zu mir auf. Vorbei an der Gläsernen Manufaktur, über die Stübelallee entlang dem Großen Garten, und nach einer 180-Grad-Kehre zurück zur Fetscherstraße und weiter durch Striesen - stets begleitet von riskanten Schienenquerungen - folgte die Strecke nun der des Dresden-Marathons. Mit dem Kollwitz-Ufer war die Elbe erreicht. In der Auffahrt zur Waldschlößchenbrücke sollte später einer vom Team Triebwerk nur wenige Zentimeter vor mir zerschellen und vom Bordstein in hohem Bogen auf den Gehweg katapultiert werden. Es folgte der ebenfalls nur mit Bodenleuchten markierte Waldschlößchentunnel. Hier erlebte ich einen Crash gleich in der Tunneleinfahrt am Südportal - und brechende Speichen nach der Ausfahrt in der Kehre mit zwölf Meter Radius. Die anschließende dritte Tunneldurchfahrt mit an die sechzig Stundenkilometer vom Nordportal zurück auf die Waldschlößchenbrücke lief wie ein unwirklicher Film vor meinen Augen ab. Ich hielt mich an die weiße Linie aus Lämpchen am rechten Rand, alles andere schien tintenschwarz. Hätte es gekracht, hätte es das Schicksal so gewollt. Fünfmal durch das „Wiener Loch“, zehnmal durch den Waldschlößchentunnel: fünfzehnmal Flehen nach dem „Licht am Ende des Tunnels“ - und jedesmal Glück gehabt... Von der Waldschlößchenbrücke führte der Weg stadtauswärts nach Blasewitz. Hier lag zwei Runden lang ein Sportler stabilisiert in einer Bahre am Straßenrand. Unaufhörlich heulten Sirenen. Nach einer Kurvenkombination am Standesamt Goetheallee führte die Strecke anschließend schnurstraks durch ein Spalier aus Absperrgittern längs zur Johannstadt zurück zum dichtgesäumten Terrassenufer. Als es dann in die zweite Runde ging, wurde das Tempo immer weiter forciert. So kam es in der dritten Runde zum Zusammenschluß der ersten Verfolger samt Benedix und mir mit Versprengten aus der Spitzengruppe. Auf der Stübelallee war das Loch zugefahren. Die Spitze hielten vierzig Fahrer um den späteren Sieger Niels Merckx aus Belgien. Mit fünf Minuten Abstand folgte unser Pulk mit ebenso vielen Akteuren. Die übrigen dreihundert fuhren in einer Endloskette mit großem Abstand, die meisten kamen eine halbe Stunde nach dem Sieger ins Ziel. Das größte Drama ereignete sich 250 Meter vor dem ZIEL: Nachdem ich vor der Albertbrücke den Endspurt unseres Rudels angezogen hatte - und mit dem Heldentod dafür bestraft wurde - zerschellten links von mir bei einem Massensturz mit hohem Tempo acht Fahrer in die Streckenbegrenzung am Hasenberg, manche wurden meterhoch durch die Luft katapultiert. Dieses Massaker und die gespenstische Stille - kein Schrei, nichts!, nur der Klang berstenden Carbons - werde ich nie vergessen!
V.o.n.u.:
Terrassenufer
Blick zur Kathedrale
Vorm Rudolf-Harbig-Stadion
Auf der Waldschlößchenbrücke
Teilnehmermedaille
Benedix & Vitus
(© Sportograf, Peanut)
Finale
 
Peanut erwartete mich auf dem Neumarkt. Dort erhielten alle eine Andenkenplakette. Wir quasselten mit Benedix und ich spülte das pumpende Adrenalin mit einem Bier runter. Der von der Sonne so verwöhnte Tag wurde von zig Unfällen getrübt. Von den 490 Fahrern über die 103-Kilometer-Strecke schieden 60 (!) durch Unfall, Defekt oder Schwäche aus. Ich selber sah oder hörte zwei Dutzend stürzen und hatte in der zweiten Runde mehrmals über einen Ausstieg nachgedacht: ob ein beendetes Rennen die Gefahr eines zerstörten teuren Rennrades, gebrochener Knochen oder noch Schlimmerem es wert sind. Veranstalter und Presse schwiegen sich über die Schlachtplatte aus, Nur die Dresdner Neueste Nachrichten berichtete am Montag, daß angesichts des Dramas auf der Zielgeraden „die Schwere der Verletzungen noch nicht ermittelt werden konnten“. Ein Notfallsanitäter sagte mir später. daß zwei Sportler POLYTRAUMATISCHE VERLETZUNGEN erlitten, also LEBENSGEFÄHRLICHE. Ich bin ungeschoren davongekommen, hatte mit neun Minuten Rückstand auf den Belgier Merckx als 74. und 9. der Masters 3 das Ziel erreicht. Aber ein Wiedersehen mit dem Velorace wird es für mich nicht geben. Ich werde bei überhaupt keinem großen Jedermannrennen mehr starten!
 
Danke
Peanut (für Kümmern, Anspornen und Trösten)
 
 
Vitus, 14. August 2019; Bilder: Sportograf
 
.:: ZAHLEN UND ZEITEN ::.
Wetter: sonnig, 24ºC, leichte Brise (7 km/h)
Typ: Straßenrennen (Jedermann)
Länge: 103 km
 
Gesamtteilnehmer:
1737
Am Start: 103 km: 490 (M: 458 / W: 32), 62 km: 599 (M: 537: W: 62), 42 km: 190 (M: 160 / W: 30), 21 km: 43 (M: 27 / W: 16)
Im Ziel: 103 km: 430 (M: 401 / W: 29), 62 km: 580 (M: 521: W: 59), 42 km: 182 (M: 153 / W: 29), 21 km: 43 (M: 27 / W: 16)
 
103 Kilometer
Am Start:
490 (M: 458 / W: 32)
Im Ziel:
430 (M: 401 / W: 29)
1. Niels Merckx (Leuven, Unlimited Cycling Team Belgium) 2:16:42
2. Benjamin Ahrendt (Trimago Magdeburg)
3. Marek Bosniatzki (RSG Muldental Grimma)
4. Patrick Altefrohne (TV Friesen Telgte)
5. Harry Kühnelt (Dessauer RC)
6. Moritz Stähle (RSC Stadtlohn 1968)
74. Vitus (Dresdner SC 1898) + 9:18
Zeit: 2:25:53
Geschwindigkeit: 42,3 km/h
Platz (M/W): 73 von 458
Platz (Masters 3): 9 von 80
Platz (Gesamt): 73 von 490

 
Ergebnisse

Velorace Dresden