PARADISE LOST, PALLBEARER, SINISTRO
D-Frankfurt am Main, Batschkapp - 19. Oktober 2017
Vier Scheine, drei Gruppen, zwei Hoffnungen, eine Legende: Zum Eintritt von annähernd vierzig Euro gaben sich mit Paradise Lost, Pallbearer und Sinistro drei Gruppen die Ehre, die wir alle schon mal gesehen hatten, und die uns alle auf ihre Art schöne Stunden besorgten. Alle zusammen vereint: Das mußte ein großer Abend werden. Hofften Frl. Peanut und ich... Allerdings schwirrten unsere Gedanken immer noch um Saint Vitus im intimen Kreis mitten in Frankfurt vor achtundvierzig Stunden... Mit der Neuen Batschkapp folgte der gigantische Gegenschlag am Stadtrand: Tausend Anhänger - gesittetes Gelump von sonstwoher - füllten die ehemalige Plastefabrik in Seckbach zu zwei Dritteln auf. Nicht zuletzt wegen der unsichtbaren Fluchtwege schwang dort auch ein mulmiges Gefühl mit, wehrlos wie in einer Mausefalle... bedenkt man den Gruppennamen... Das verlorene Paradies... Um acht fiel der Peng.
Mit ihrem märchenhaften Spiel aus Anmut und Schönheit, Postmetal, Fado und Doom, hatten SINISTRO aus Lissabon beim „Doom in Bloom“ einen hypnotischen Strudel erzeugt, und eine Stunde lang alles an die Wand gespielt. Sinistro waren sexy, freigeistig und auch etwas traurig. Neues Material hatten sie nicht am Start. Rick Chain, Fernando und Ricardo Matias, Paulo Lafaia und Patrícia Andrade lieferten Lieder ihres Albums 'Semente', die sich wegen einer um die Hälfte verkürzten Spieldauer auf vier beschränkten. Von ihren Begleitern publikumswirksam in Szene gesetzt, erblühte die portugiesische Frau dabei zu einer wahren Medusa: Wer hinsah, erstarrte zu Stein. Im Unterschied zum anmutigen Doom in Bloom verlor sich Senhorita Andrade jedoch in exaltierter Selbstliebe und machte sich final in einer Art Dramatischem Theater zum Äffchen: Sie sang, quiekte, hauchte, schrie, zog sich die schillernde Bluse übers Gesicht und taumelte mit ruckeligen Armbewegungen übers Geviert. Dazu agierten ihre Männer deutlich glatter als vor einem Jahr, und setzten vielmehr auf zuckrigen Pomp. Die ganze Performanz lahmte an Echtheit. Doch so waren Sinistro auch eine maßgeschneiderte Vorlage für Paradise Lost. Unsere erste Hoffnung war verpufft.
Mit den US-Doomern PALLBEARER konnte ich vor zwei Jahren in Wiesbaden wegen deren progressiven Frickeleien und gewollter Rührseligkeit nicht allzu viel anfangen. Das dritte Album 'Heartless' - das paradoxerweise ebendies ist: herzenskalt und dünn produziert - trübte mein Gefühl für das Rudel aus Arkansas noch mehr. Als dann zwanzig Minuten vor neun die ersten Klänge von „Thorns“ aus den frei schwebenden Speakern brachen, nahm jedoch eine neue Begeisterung ihren Anfang. Brett Campbell, Devin Holt, Jo Rowland und Mark Lierly zelebrierten absolut packenden, reinrassigen Doom Metal, der plötzlich ohne Schnickschnack und - im Unterschied zu den berechnenden Koksnasen von Southern Lord oder Ván - mit Charakter und Emotionen daherkam. Wenngleich wieder und wieder gereckte rechte Fäuste viel amerikanischen Pathos und Patriotismus vermittelten, strahlten Pallbearer heute auch eine unglaubliche Ehrlichkeit und Leidenschaft aus. Besonders Holt und Lierly versprühten wild ihre Mähne schüttelnd den Spirit der alten Zeit, während Rowland eine stringente Performanz hinterm Viersaiter ablieferte und Campbells hoher Tenor heute fest und kräftig im Raum stand. Mit der Verbindung von Seele, handwerklicher Perfektion und ihrer unorthodoxen Auslegung von „Doom“ (die für uns Deutsche immer etwas anders ist), wären Pallbearer in einem anderen Umfeld als der Fabrikhallenästhetik der Neuen Batschkapp nackter Wahnsinn gewesen. Der alles überragende pallbearersche Urknall „Foreigner“ beschloß einen von der ersten bis zur letzten Sekunde aufwühlenden und berührenden Auftitt, der noch lange im Kopf blieb.
Einst erfanden PARADISE LOST die Grundprinzipien des Gothic Metal. Sie waren morbid, verrucht und untergründig. Ihr Album 'Gothic' leitete nicht nur die Auferstehung des Doom mit ein, nein, es war die Inspiration für so manche Death-Doom-Gruppierung und bleibt das beste Gothic-Metal-Werk aller Zeiten. Aber das ist verdammt lang her. Ein Vierteljahrhundert später lag die Vergangenheit in Trümmern. Schmalziger Populärmetall hatte den Ruf der Engländer als dunkelromantischer Undergroundact ruiniert. Für mich selbst waren sie mit der Beschleifung ihres Gruppenlogos, spätestens jedoch ab dem Viertling 'Icon' (1993) gestorben. Im Grunde hatte es auch nur 'Gothic' für mich gegeben. Mit ihrer fünfzehnten Langrille 'Medusa' versuchte die einst vergötterte Gruppe eine Rückkehr zum Death Doom. Nochmal drei Jahrzehnte zurück? Nick Holmes, Greg Mackintosh, Aron Aedy, Steve Edmondson sind als Gründungsmitglieder seit 1988 zusammen: das gibt es nicht oft. Mit Waltteri Väyryninen hatten sie heute ihren vierten Trommler dabei. So weit, so gut... Doch mit Entsetzen bemerkte ich auch, daß nach Holmes Lockenmähne nun auch Mackintoshs arschlanger Schopf einer kurzen Zackenfrisur weichen mußte. Hingegen die ohnehin stets stromlinienförmigen Aedy und Edmondson wie gewohnt stumpfsinnig mit vornübergebeugtem Oberkörper die Finger über die Trossen schrubbten. Doch der Plan, die Rückkehr zu den Wurzeln, blieb eine Illusion. Erst versuchten sich Paradise Lost eher jämmerlich an Officium Triste und Type O Negative; anschließend durchschritten sie eine quälende, schier endlose Ödnis, die nur durch „Eternal“ und „True Belief“ zu spät versöhnt wurde. Nach neunzig Minuten Berieselung entließen sie uns mit dem Ohrwurm „The Last Time“ in die Feste des Dooms: nach Rotterdam... Würzburg... Nürnberg...
 
 

Heiliger Vitus, 26. Oktober 2017, Bilder: wegen Kameraverbot mit Funktelefon gemacht
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
SINISTRO
(20.00-20.33)
Vier Titel, alle unbekannt
 
PALLBEARER
(20.40-21.31)
1. Thorns
2. The Ghost I Used To Be
3. Fear and Fury
4. Dancing in Madness
5. Worlds Apart
6. I Saw the End
7. Devoid of Redemption
8. A Plea for Understanding
6. Foreigner
 
PARADISE LOST
(22.00-23.26)
1. Gods of Ancient
2. Remembrance
3. From the Gallows
4. One Second
5. Tragic Idol
6. Medusa
7. An Eternity of Lies
8. Enchantment
9. Faith Divides Us - Death Unites Us
10. Blood and Chaos
11. Eternal
12. Beneath Broken Earth
13. True Belief
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14. No Hope in Sight
15. The Longest Winter
16. The Last Time