DOOM IN BLOOM V
 
SUBROSA, NAEVUS, SINISTRO, MIRROR OF DECEPTION, VERSUS THE STILLBORN-MINDED, MUSTUM
D-Esslingen, Komma - 8. Oktober 2016
Das DOOM IN BLOOM gilt als Vorfahr und Pilot für das legendäre Doom Shall Rise, das zwischen 2003 und 2013 achtmal ausgetragen wurde. Mit seiner Premiere 1996 ist es nicht nur das älteste Festival seiner Art in Deutschland - Doom in Bloom trat zugleich eine Doomlawine in unserem Land los. Naevus, Mirror of Deception, Dawn of Winter: Die Protagonisten kamen aus der Württembergischen Nachbarschaft und zählen bis heute zur Spitze im traditionellen Doom. Zunächst fanden zwei Ausgaben in Bietigheim nördlich Stuttgarts statt. Nach dem Abriß des Schauplatzes in der Farbstraße und fünf Jahren Pause kam es zu einem Wiedererwachen 2008, sozusagen als Notnagel für Doom Shall Rise, welches in jenem Jahr erstmals ausfiel. Nach einem weiteren Doom in Bloom anno 2009 fiel das Fest erneut in einen langen Schlaf - um nach dem Ende von Doom Shall Rise ganz neu zu erblühen. Vagen Andeutungen im Netz folgten im Sommer 2016 Taten. Mit Tom, Timon, Jojo, Simon, Katrin und Claus fand eine Crew aus Veranstaltern, Bookern und Artworkern im 350 Personen fassenden Essllinger Kulturzentrum „Komma“ ein neues Heim, eine Internetseite wurde etabliert, via „Reservix“ Karten für 17 Euro vertrieben, und Pläne für einen Ableger in Berlin geschmiedet. - - Nachdem Goddess of Doom Peanut und ich bislang fernblieben, nach langer Suche - wegen den „Cannstatter Wasen“ waren viele Herbergen ausgebucht -, und als wir unsere Reise ins Ländle schon äußerst skeptisch sahen, fand sich zwischen Rebhängen und Neckar doch noch ein Schlummerstüblein vor Ort. So kam es zwanzig Jahre nach seiner Premiere zu unserer ersten Teilnahme am Ritual im Südwesten. In der Nacht zuvor waren wir auf den Spuren von Peter Vicar im „Ad Astra“ versumpft (der Reverend-Bizarre-Gitarrist hatte hier mal einen Soloauftritt), und sind in der Weinstube nebenan immer weiter mit Trollinger und Birnenschnaps befüllt worden. Letzterer war fatal. Die Nacht endete mit einer ganz bösen Erfahrung über der Latrine, so daß es einem von uns heute richtig schlecht ging. Nach etwas Suche zwischen Neckar und engen Altstadtgassen standen Peanut und ich schließlich vorm „Komma“, einer Fabrik aus dem 19. Jahrhundert...
MUSTUM hatten pünktlich um sechs begonnen. Durch die Wirrnis kurz vorm Ziel waren uns die ersten Minuten entgangen. Mit fünfzig Leuten herrschte anfangs einsame Weite im Saal. Gleiches traf auf die Bühne zu. Denn dort weilten nur zwei in tiefem Raum umgeben von waberndem Nebel und einem Weinkrug als Maskottchen: Pascal Distance, der Langhaarige am Sechssaiter und Mikro, und sein schwarzgeklufteter Gefährte Tim hinterm Schlagzeug. Und zwar bei ihrem ersten Auftritt überhaupt. Mit minimalistischen Mitteln schufen die Württemberger einen ganz großartigen Doom mit authentischem, ungeschliffenem Retrocharme. Es war alles drin: absolute Zeitlupe, Tiefe und Manie. Ihren Joker zogen Mustum an vorletzter Stelle mit „Das Rote Tuch“, das nicht auf Englisch, sondern schwäbisch zelebriert wurde - bevor die Darbietung mit einem Lied schloß, das kein glückliches Ende hat: „Recourse to the Remedy“. „Mustum“ steht übrigens für eine alte Mostpresse in der Garage des Frontmanns, in der sich auch der Übungsraum befindet. Wir erlebten also Garagendoom im ursprünglichsten Sinne des Wortes. Hoffentlich vergessen die Jungen niemals diese Wurzeln! Das war eine Ansage!
Um die Jahrtausendwende waren sie Freaks mit Visionen und ihrer Zeit hierzulande ziemlich weit voraus. Um nicht zu sagen: VERSUS THE STILLBORN-MINDED standen allein auf weiter Flur. Tausend Jahre später ließ die Sludge-Staffel aus Nürnberg die Vergangenheit ruhen, und trat mit neuem Stoff an (zwei Teile waren noch unveröffentlicht) - welcher etwas an der Tiefe und Radikaliät von einst missen ließ, und stattdessen - wie „True(ly)“ - überaus forsch daherkam, oder gelegentlich - wie in „Shed!“ - gar postmetallischen Leerlauf riskierte. Und dabei hatte mit dem Aufwärmriff von „Climax of Delusion“ alles so doomig angefangen... Trotzdem war es spannend zu sehen, wie der neue zweite Gitarrist Andi mit einer leicht progressiven Attitüde Sturmkind Jens ersetzte, wie sich der Vokalist diesmal mit verstörend ins Kopfinnere gedrehten Pupillen vor einer Rauchsäule stehend den Weltschmerz herausschrie, und wie die drei übrigen Kerle gewohnt stoisch headbangend und mit blanker Brust ihren Dienst an den Apparillos taten. Auch wenn manches wie in einem Abkommen mit dem Festival etwas durch die Blume respektive gewöhnungsbedürftig wirkte: Die weitere Entwicklung der Franken bleibt händefaltend spannend! Zum Schutz sei ferner gesagt, daß Versus Esslingen erst zweieinhalb Stunden vor ihrem Auftritt erreichten!
Nachdem wir sie vor sage und schreibe acht Jahren beim Low Frequency Assault in Nürnberg letztmals sahen, und nachdem sie jahrelang in Scherben lagen (um am Ende getrennte Wege zu gehen), wollten wir heute mit einer alten Liebe flirten: MIRROR OF DECEPTION! Man war verwundert, die heimliche Hauptattraktion schon am frühen Abend zu erleben. Was wohl auch daran lag, daß sich an Bass und Schlagzeug Neulinge befanden, und Mirrors Programm zu großen Teilen auf Material aus der Steinzeit beruhte. Zu Beginn war der Wurm in der Technik drin. Weshalb sich die Wiederkehr der Totgeglaubten verzögerte, und ein Lied dem Zeitplan zum Opfer fiel. Punkt acht ging es los. Im Schutz von Schwager und Pflanz befeuerten Foppi und Siffi von Anfang an bedingungslos die Erinnerung an alte Zeiten. Die Novizen wirkten unscheinbar, waren aber klasse! Wobei Bassist Hans mit glockenreiner Singstimme erstaunte, und dem Frontmann manchmal die Rolle stahl. Etwa beim „Student von Ulm“. Zwölf Minuten lang. Auf Altschwäbisch. Doch sobald Siffi sich durch Heiligtümer wie „The Ship of Fools“, „Entgleiten“ oder „Vanished“ litt, brachen alle Dämme. Schade, daß mit den langen Haaren auch die doomige Optik ging. Diese Erkenntnis provozierte feuchte Augen. Vielleicht sollten sich die Württemberger künftig in Kapuzen und Nebel hüllen... Trotzdem: Mirror of Deception haben auch nahezu drei Dekaden nach ihrer Entstehung nichts an Strahlkraft verloren. Die bösen Zeiten waren für uns weit weg, und auch für die Ahnen von Doom Shall Rise schien die Welt nach so langer Zeit so, wie sie mal war...
... bis der Blick auf Patrícia Andrade traf. Schwarze Nylons und Stöckel. Weiße Bluse. Blutroter Mund. Fortan hatte Doom in Bloom nur noch voyeuristische Augen für die anmutige, würdevolle, dunkelerotische Frontfrau von SINISTRO. Das weibliche Geschöpf im adretten Nichts war von vier Männern mit wilden schwarzen Augen, langem Haar und filzigem Bart flankiert: den Sechssaitern Y und R, F am Viersaiter, sowie P hinter den Trommeln. Die fünf waren auf der Bühne wunderbar eingebettet, so daß sie zusammen mit ihrer Musik einen wahren Sinnesrausch entfachten. Mit ihren dunklen Trossen, organischen Schwingungen und der ewiglich schönen Elfenstimme Andrades, siedelte die Gruppe aus Lissabon zwischen Doom, Post- und Dark Rock. Zuerst zelebrierten sie drei Beschwörungen vom Album 'Semente' mit dem alles überstrahlenden Titel „Fragmento“, danach ihr fadoartiges Minialbum 'Cidade'. Sinistro waren wie eine doomige Herrlichkeit im Kinoformat und ein weiteres Beispiel für die Faszination des Perfekten. Da war keine Hast, keine platten Effekte. Jeder Hieb auf die Trossen, jedes gravitätisch geflüsterte, gehauchte oder hingeflehte Gefühl, jedes Flackern in den Augen, jedes Beben auf den Lippen, jede noch so zarte Regung im Gesicht saß. Es war ein atemraubender Zauber für ein Stündlein. Dieses endete mit der krassen Erkenntnis, daß der Gitarrist eine Verletzung am Knie erlitt und sich nur noch unter Schmerzen aufrecht hielt. Sinistro waren ein Mix aus Eleganz, Unschuld und Verruchtheit - ein Ereignis in jeder einzelnen Sekunde!
NAEVUS schlugen naturgemäß in eine ganz andere Kerbe. Die Welt der Südwestdeutschen orientiert sich seit anno 1991 an spirituellem Doom Metal, und genehmigt sich nach einer sehr langen Abstinenz Ausflüge ins Reich der Blumenkinder. Gleich der Auftakt „Dancing in the Summer Rain“ war Programm. Doch das Doom in Bloom stand nicht nur für eine Happy-Doom-Party zwischen Trouble und Obsessed, sondern war zugleich Naevus´ Release-Party zu deren zweitem Longplayer 'Heavy Burden', von dem ein auf 200 Stück limitiertes Doppelvinyl existiert: die erste Platte kommt in Rot, die zweite in Türkis. Naevus waren ein Auftritt, der es manchen nicht leicht machte. Die Protagonisten waren grundsympathisch, der Performanz mangelte es aber - abgesehen von der Körperlichkeit ihres Bassisten - an Bewegung und Originalität. Dem einen schienen Naevus zu hell und zu schnell. Andere störten die ausschweifenden Ansagen, darunter eine Naturbotschaft „an meinen Freund, den Baum“, oder der Fakt, daß der Mensch Spuren in der Welt hinterläßt. Eine ganz reizende folgte allerdings final. Sie lautete schlicht und einfach „Danke allen, die hier sind. Ihr wißt, wer ihr seid!“, und galt der Romanze „The Art to Love“. Dank dem Legendenstatus hielt man gnadenlos zur Gruppe. Denn Frontmann Gröbel besticht durch jungenhaften Charme wie altmeisterliche Noblesse, und er ist ein Messiah des Doom. Die aus der Zeit gefallenen Lieder bewirkten nicht nur wohlige Flashbacks, sie waren erneut die berührendsten, allen voran die von zerschmetternden Gitarren und Trommeln kredenzten märchenbunten Schwärmereien „Gallery of Fantasy“ und „Sky Diver“. Gröbel, Großhans, Heimerdinger und Straub hatten die meisten Gäste, sie ernteten den stärksten Jubel, und wenn einer wie der Mourner aus Leipzig das neue Album gleich sechzig (!) Mal hintereinander hörte, dann müssen Naevus alles richtig gemacht haben!
Nach Naevus zeigte die Menge Abnutzungserscheinungen. Etliche waren in der halben Stunde Pause gegangen, als kurz vor der Geisterstunde die von Naevus gepriesenen SUBROSA aus USA plötzlich im totalen Dunkel der Bühne in ihre Schau starteten. Das weiblich dominierte Kommando aus Gitarristin und Sängerin Rebecca Vernon, den beiden Elektrogeigerinnen und Co-Vokalistinnen Sarah Pendleton und Kim Pack, dem Bassisten Levi Hanna, sowie Schlagzeuger Andy Patterson, hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Eigentlich waren die drei Mädel, die in ihrem früheren Leben bestimmt Punker waren, ganz süß mit ihren Rattenschwänzen und ihrer trotzig-taffen Attitüde. Dennoch peinigten sie ihre Violinen wie bei einer ganz üblen Teufelsaustreibung. Leider verkamen ihre männlichen Begleiter zur Zierde. Subrosas wüstes Experiment aus Hardcore, Postcore, Sludge, Neurosis und Isis kam in amerikanischer Manier grell, hemmungslos überzogen und auch etwas überheblich rüber. Das Wogen zwischen Brachialität und geheimnisvoller Stille, zwischen Grunzen und Singen, und das Gewitter aus Effekten war so heftig, daß es jedes Doomgefühl erschlug. Sodaß Subrosa vom Verfasser aus den hinteren Reihen bedacht wurde. Drei junge Frauen, die geduckt wie von Sinnen auf ihre Instrumente eindroschen, einige esoterische Ansätze, Sex sells, Geigenonanie, sonst viel Leerlauf: Das ist es, was mir von den Amis blieb. „We were Subrosa from Salt Lake City, Utah. We are happy to be here“, lautete die Durchsage vorm Ende des regulären Teils durch „The Usher“... bevor sich die Vertreter des Mormonen-Staats die Freiheit für eine Verlängerung nahmen. „Beneath the Crown“ besieglte kurz vor ein Uhr - also eine Dreiviertelstunde nach offiziellem Ende - die fünte Runde der Kultserie.
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
MUSTUM
(18.00-18.29)
1. Through Grinding Teeth
2. Born Old
3. Das Rote Tuch
4. Recourse to the Remedy
 
VERSUS THE STILLBORN-MINDED
(18.52-19.30)
1. Pruning
2. True(ly)
3. Chore & Order
4. Cut and (Still) To Be Threshed
5. Shed!
 
MIRROR OF DECEPTION
(20.00-20.44)
1. Haunted
2. The Ship of Fools
3. Entgleiten
4. Vanished
5. The Riven Tree
6. Der Student von Ulm
7. Orphants
8. Sojourner
 
SINISTRO
(21.08-21.56)
1. Partida
2. Corpo Presente
3. Cidade (Parte 1)
4. Cidade (Parte 2)
5. Fragmento
 
NAEVUS
(22.20-23.14)
1. Dancing in the Summer Rain
2. Heavy Burden
3. Black Sun
4. Gallery of Fantasy
5. Naked
6. The 3rd Sun
7. Whistling Tree
8. Future Footprints
9. Sky Diver
10. Cloudless Sunstreams
11. The Art to Love
 
SUBROSA
(23.45-0.55)
1. Fat of the Ram
2. Despair Is a Siren
3. Wound of the Warden
4. The Usher
******
5. Beneath the Crown
Nachhall
 
Doom in Bloom Vol. V entpuppte sich als ein mit Liebe hergerichtetes Fest von Jüngern des Doom für Jünger des Doom. Neben gediegenen handnumerierten Fantickets - die man am Einlaß erhielt - waren Plakate und Zettel in unterschiedlichen Ausführungen gedruckt worden. Weiterhin befanden sich purpurne Festivalhemden in Arbeit. „Meta Matter Records“ waren mit einem Plattenstand vor Ort. Augustiner und Wulle waren für drei Euro erhältlich, ebenso veganes Chili con Carne. Einen sauren Nachgeschmack hinterließ nur der Verlust einer Grief-Kapuzenjacke, die trotz Bitte nicht vom Finder am Schalter abgegeben wurde. Insgesamt gingen 246 Eintrittskarten über den Tisch. Die Anwesenden waren fast durchweg bekannte Gesichter (auch welche aus England). Neben einer Wiederbegegnung mit einem alten Bekannten vom Chicago-Marathon 2009 (der extra für Naevus aus Stuttgart angerückt war), ergaben sich jedoch im Anschluß längere Zwiesprachen mit Tom von Petrified und Mitveranstalter Claus. Sodaß Frau P. und ich nach einer weiteren heillosen Verwirrung auf dem Rückweg durchs Gewinkel Altesslengas, und dem letzten Schluck im Quartier, in der dritten Nachtstunde in die Federn fielen.
 
 
Bröschderle!
Das Personal von Doom in Bloom
Alle aufgetretenen Gruppen
Goddess of Doom P.
Dr. Neumann (für das Einstellen unseres Fotoapparats, leider erst nach Mirror...)
Das friedfertige Publikum
 
 

((((((Heiliger Vitus)))))), 13. Oktober 2016