MARIPOSA SYNDROME, THE CHASE, OUTSPOKEN SILENCE
D-Frankfurt am Main, Elfer Music Club - 2. Juni 2007
Parallel zum Gipfel der „G8“ in Heiligendamm kam es am Abend des zweiten Juni in Frankfurt zu einem Rendezvous der anderen Art: Während sich an der Ostsee linksautonome Systemgegner Straßenkämpfe mit der Polizei lieferte, während es in Rostock Gehwegplatten, Steine, Flaschen und Stöcke hagelte, während im Osten 953 Leute verletzt wurden (davon 433 Uniformierte, 50 schwer), krachten 500 Kilometer westwärts am Main, emotionale Schreie aufeinander: beim Big Bang des Screamo. - Pünktlich im „Elfer“ eingeschlagen, erblickte ich hinterm Tresen erst mal einen Bekannten aus der Frankfurter Subkultur: Philipp, Sänger der Indierocker Colourful Grey, zapfte heute das Bier für die Kappkunden. Und er hatte eine betrübliche Neuigkeit: Colourful Grey würden im September 2007 ihr letztes Konzert geben und sich danach auflösen. (Philipp: „Manchmal ist es besser, sich zu trennen.“) - Unten im Liveclub stieß ich mit Frau Peanut auf einen ziemlich vollen Raum (60 Gesichter, die Hälfte junge Dinger aus gutem Haus) und 30 Grad Dampfluft.
Mit OUTSPOKEN SILENCE - Jack, Nick, Rich, Andy und Joe aus Yorkshire, UK, ging´s um 21.28 Uhr los. Die fünf verquickten gewaltig krachende Metalgitarren, pulsierende Heavybässe und wechselweise harsch zerrende und extrem geschriene Emotionen - daher der Begriff Screaming Emo, kurz „Screamo“ - zu krankem Krach wie „Before You Leave Can You Take this Knife Out of My Back“ und „Burn, Fade Away“. Während der Bassist mit einem Schlagring bedruckten Hemd bestach, der Gitarrist in Manier der Eisernen Jungfrauen posierte und der Sänger als hyperneurotischer Springteufel durch den Raum stürmte, übte sich der Großteil des Publikums anfangs in sicherer Entfernung und aufputschender Abstinenz. Anfangs. Denn die Grünhörner von Outspoken Silence und die Meute sollten bald zu einem Gemenge aus heftig moshenden Leibern verquirlen. Ein wilder Punk sprang durch die Meute, Outspoken Silence erklärten: „Bying our shirts and cds keeps us rich!“, und nach vierzig Minuten waren die Tommys durch. Sie waren ein Auftakt von hohem Aggressionspotential nach Maß! - Die Pause hatte trotz Schlagzeugwechsels nicht mal die Länge eines Frischgezapften am wohltemperierten Elfertresen, als aus den Kellerboxen schon die nächsten Liveklänge hämmerten...
Punkt 22.39 Uhr ging der Screamo in Runde zwei - mit Mikey, Greg, Alex, Tom und Moggy. „We are THE CHASE from London Town. This is our first time in Germany and the second day on street“, so der amtliche Hailsgruß. The Chase servierten im ursprünglichsten Sinne des Wortes eine „Verfolgungsjagd“. Einen Tick melodischer und ausbalancierter als die Landsmänner. Und mit noch mehr Speed, Power und Action. Die nicht zuletzt vom exzentrischen Fronter Mikey und dessen unbändigem Aktionismus und schockigen Punkgrimassen initiiert wurden. Ich sag nur: wild aufgerissene Augen, obszöne Schmollschnuten und grelle Mimik am Anschlag... Zu versaut tiefhängenden Hosen trugen die Engländer wild ins Gesicht hängende Ponys (die minütlich neu gelegt werden wollten) und die szenetypischen riesigen, schwarzen Tunnel im Ohr. Stilistisch gab´s ´nen Mix aus explodierendem Screamo, maidenschen Gitarrenduellen und etwas Deathpunk - ein Schreien, Kreischen und Grunzen im Hasenficktempo, das den Mob vollends mitriß. Die alte Hackordnung zwischen den gottgleichen Musikern auf der Bühne und der ehrfürchtig aufschauenden Unterstützerschaft wurde von der Wachablösung weggesprengt. Besonders beim Post-Hardcore ist immer wieder das Phänomen eines atemlos durch Raum und Zeit tobenden Frontmanns und eines diffusen Knäuels aus Fans und Band, in dem jeder mal unkontrolliert ins Mikro schreit, zu bestaunen. Die fünf Raben aus London waren chaotisch, bizarr, irre spannend und das geschriene Jackson-Cover „Beat It“ so was wie der Geheimfavorit des 'Dead Beat At Dawn'-Raubzugs. - Im Anschluß erstand ich von Mikey etwas Chase-Ausrüstung. Der war völlig aus dem Häuschen, als ich „Woolwich“ erwähnte, wo wir sechs Wochen zuvor beim London-Marathon durchrannten - und wo The Chase leben! Mikey mit blitzenden Augen auf meinen EyeHateGod-Fetzen gerichtet: „I like this band very much!“ (verkappter Sludger!)
.:: ABSPIELLISTE THE CHASE ::.
(ohne Garantie)
1. Awake at the Roadside
2. Addict
3. We Call for War
4. A Blur of Wasted Youth
5. Monster
6. Beat It (Michael Jackson)
Nach erneut schnellem Umbau gab´s ab 23.25 Uhr - Simsalabim! - Mathcore. Aber nicht aus Engeland, sondern der Ebbelwei-Metropole Mainhattan. „Wir waren gestern in Holland. Dort sind nur halb so viele Leute gewesen. Ihr solltet stolz auf euch sein, Frankfuuurt!“ Ein Lob von den nach dem geklonten Star-Trek-Planeten benannten MARIPOSA SYNDROME an die sechzig Kellerkinder vom Main. Gefolgt vom Warnhinweis „Have Party! Wenn einer blutet, etwas vorsichtig sein!“. Und diese Aufforderung war mehr als sinnvoll! Denn neben den üblichen windmühlengleich mit den Armen wedelnden Strategen, war es speziell ein schirmbemützter Hardcorescreamo, der mit zirkusreif geschlagenen Rädern für hochgradige Gefahr vor der Bühne sorgte. MS - die ihre Gitarren zur Eigensicherung zu Waffen im Anschlag umfunktionierten - waren nicht so jagend schnell, etwas flächiger, endzeitlicher, unbehaglicher als die Kollegen aus der Trendfabrik. Zu einer Nummer über „Piercings, Tattoos und Seitenscheitel“ gesellten sich düstere, überwiegend gegrunzte Zerstörer, wie „Dehydrating in the Meantime Waiting for Death“ und „I Bought a Ticket to the End“. Nach einem Ritt des Gitarristen auf den Schultern des Outspokensilencebassers und einem Riß des Gitarrengurts im Finale furioso war Mitternacht Schicht im Schacht.
 
Rostock stand in Flammen!
 
 

Heiliger Vitus, 4. Juni 2006