COLOURFUL GREY, REINHARD & MAI, UNIVISION, LETZTE TAGE UNSERER JUGEND
D-Frankfurt am Main, Sinkkasten - 26. Dezember 2003
Hail Santa! Weihnachten. Christenfest. Fest der Liebe. Pah! Das ganze Jahr so viel Haß und Heuchelei, Zwänge und Lügen, und für den einen Tag lieben sich alle, daß ich nur Verachtung speien kann... Doch alle Jahre wieder setzte es zum Fest der Liebe auch böse Hiebe. Julfest war für mich gleichbedeutend mit FUCK X-MAS IV, dem Metaltanz im Szeneschuppen „Nachtleben“ mit DJ Buffo vom Rock Hard. Nach drei versäumten Ausgaben war der Rotkittel diesmal fällig. Zweihundert Christenhaßer waren Buffos Ruf gefolgt: Metaller, Schwarzmetaller, Gruftis, mit Killernieten bewehrte Heiden, Satansbraten mit umgedrehten Kreuzen, Hardrocker. Der zum Türpersonal degradierte Tankard-Frontmann Gerre stellte mich einer Unbekannten vor: „Das ist der Heilige Vitus. Das ist ein gefährlicher Mann!“ Nach der Eliminierung von einem Dutzend Weißbieren, und nachdem mich Nachtleben-Chef Onkel Ralle bereits argwöhnisch beäugte, räumte ich das Feld.
 
Den 1. Weihnachtstag durchstand ich auf Schleichfahrt...
 
... am 2. erblickte ich wieder das Licht dieser Welt. Auf die vier weißen Wände daheim hatte ich keine Lust. Etwas für die Seele sollte es sein: die Indierocker Colourful Grey. - Seit zwei Jahrzehnten verhilft der „Sinkkasten“ unter dem Banner „Support Your Scene“ regionalen Himmelstürmern zu einem Auftritt, heute zum 31. Mal. Um neun hatte ich - mit blondem Gift zur Seite - den Klub im Zentrum Frankfurts erreicht. Vierhundert Schulfreunde in pastellenen Hemden, Popperhosen, gefakten Nietengürteln und Moptop-Frisuren gaben sich an antiquierten Caféhaustische und auf ausgedienten Rattansessel und Kinobänken ein Stelldichein.
Ab 20 Uhr 50 standen die Warmbläser LETZTE TAGE UNSERER JUGEND auf den Brettern. Vier junge Gefühlsanarchisten, die schlauen Deutschpunk im Stile der Ärzte machten. Demonstrativ grüßte der Fronter dann auch nicht Berlin, die Hauptstadt im Osten, sondern die Modestadt Düsseldorf, Heim der „Roten Rosen“ und „Rheinpiraten“. Nun, die Geschichte ist schnell erzählt. Die Naseweise aus Rodgau zockten ihr Programm aus schnellem Pop-Punk und intelligenter Vokalakrobatik, wie „Regen scheint“, „Krieg & Frühling“, „Lisa rettet die Welt“, „Zellophan“, „Besser denken“ und „Heute ist es ihr egal“, herunter. Plattitüden um die „Buttons“ und die quälenden Frage, „ob der rote Punkt auf der Stirn indischer Frauen das Zeichen sei, daß sie zu haben - oder schon vergeben sind?“, lockerten die Chose auf. Es gab noch Grüße nach Köln (an die warmen Brüder?) und Düsseldorf (noch mal). Wir kennen das. Doch die Letzten Tage wurden gut beklatscht. 21 Uhr 25 war Sense. In der Pause traute ich meinen Augen nicht, als die geschmeidige Lolita vom „Maingold-Festival“ vor Wochenfrist erneut viel zu aufreizend an mir vorbeistöckelte. Früchtchen!
21 Uhr 40 schrammelten die Campusrocker UNIVISION zwei Nummern lang da weiter, wo die Kinder zuvor endeten: mit flachem Gute-Laune-Punkrock. Doch es wurde besser. Denn ab Lied Nummer drei wandelten die Frankfurter in sehr eindringlichen Emo-Rock-Gefilden. Patrick, Moritz und die beiden Christians öffneten Räume zum Träumen. „My Sunday Afternoon Tea Party“ war ein unglaublich schöner Gitarrenrocker über traurige Sonntage. Vorgetragen einzig von Patricks und Christians treibenden Instrumenten und erdigen Stimmen. Feine Echoeffekte sorgten für Gänsehautstimmung. Mit „Destroy the World“ folgte ein Finsterling, den uniVision erst zwei Tage zuvor fertig hatten. Darauf wurden beim Titelstück der Schallrille, „Risk a View Down“, die Pedale wieder etwas fester durchgetreten. Das folgende „So Unhappy“ begann sehr ruhig und mündete in einem kraftvollen Gitarrensturm. Während „The World is Not Included“ und „Where are You?“ einfach nur schöne Gefühlsrocker voller nachdenklicher Melancholie waren. Wenngleich auch uniVision nicht ohne neunmalkluge Einwürfe auskamen, sorgten sie zumindest für ein bißchen Wohligkeit in dieser kalten Jahresendzeit.
REINHARD & MAI waren der Tiefpunkt meiner zwanzigjährigen Konzertaktivitäten. Wie die Presse den Vierer um Christian Maier als „künftige deutsche Superstars in der Mutterpsrache“ anpreisen konnte, wußte nur der Himmel... Schon der Name sorgte für Kopfschütteln. „Was das Publikum kann, daß können wir auch.“ Dieser stille Protest wurde in die Tat umgesetzt, und R&M boten in der Folge Sitzunterhaltung am Bühnenrand. Mit Wandergitarren und von Liebe, Weltschmerz und Fernweh erzählenden Liedern wie „Mädchen“, „Autobahn“, „Das Innere sehen“, „Traumwelt“ und „Raum und Zeit“. Boney Ms „Rivers of Babylon“ wurde ebenso verpfuscht wie die Hommage an die Countrylegende Johnny Cash, „My Rifle, My Pony and Me“. Und statt meinen Ohren die Ballade über die „Augsburger Puppenkiste“ zuzumuten, hätte ich mich lieber von Knecht Rupprecht penetrieren lassen sollen. „Hörspielkassetten“ knipste dem unerwünschten Kind nach einer halben Stunde das Licht aus. Fazit: 1 von 12 Punkten - für Maiers Squadra Azzurra-Jacke.
Der Groll war rasch verpufft. Mit knalligen Farben, Liedern voller Esprit und einer atemraubenden Performanz stellten Philipp Lemhöfer, Boris Werth, Simon Lukas, Jan Geißler und Martin Loos alias COLOURFUL GREY die Nacht komplett auf den Kopf. Stilistisch geprägt war die Gruppe von Liedern der New-Wave-Zeit. Forsch gleich der Auftakt durch „Start Today“ und „Scared“. Im Unterschied zu den angesagten, blutarmen Emos, sprühten Colourful Grey nur so vor dunklem Charme. Fronter Lemhöfer, ein junger Mann im schrillen New-Wave-Look, hat die Gabe zur Schau. Colourful Grey haben mich mit dem ersten Takt mitgerissen, hier britzelte es nur so vor Spannung. Einerseits waren die Grauen frech und witzig - wie in „Date Me, Destiny“ oder „When I Scream“ -; andererseits melancholisch und bisweilen sentimental, wie in „All Fall Down“ und „No Lighthearted Times“. Und dazu schier überschäumend vor Frische und Energie. Der Gruppenname sagt´s ja: Alles so schön bunt und grau. Philipp erzählte wie „Devils Son“ Lukas in Georgia zur Gruppe stieß, und nach dem hochenergetischen, tief daherdonnernden „Dancing with Ghosts“ kippten die Burschen zusammen ein Schnäpschen (mit der Überlegung, sich in „Wolfgang & Petry“ umzubennen). Und weil es nichts Geileres als Frankfurt-Höchst und den „Froschkönig“ gibt, setzten CG ihrem Viertel mit den „Western Suburbs“ ein knackigges, von Rasseln unterlegtes Denkmal. Für die aus Hamburg Angerückten wurde die taffe „Crime Scene“ abgefackelt, und bei „Sleeping Beauty“ hechteten sich etliche Menschen verwegen vom Geviert. Die Meute forderte Zugaben - und bekam sie. Zu Krachgitarren wurde die Orgel angeworfen, es ertönte „Leave Your World Behind“. Und noch immer sprangen die fünf wie Kobolde über die Planken. Final setzte es noch einen optischen Knaller. Denn beim Cover von The „holy“ Smiths´ „There is a Light that Never Goes Out“ malträtierte der exzentrische Philipp auf dem Drumrack balancierend die Sechssaitige. Halb eins beschlossen Colourful Grey ihre sehr geile, extravagante, einstündige Schau. Euphorisch verzweifelt!
.:: ABSPIELLISTE COLOURFUL GREY ::.
1. Start Today
2. Scared
3. All Fall Down
4. Date Me, Destiny
5. Dancing With Ghosts
6. Western Suburbs
7. Crime Scene Part 1
8. No Lighthearted Times
9. When I Scream
10. Sleeping Beauty
******
11. Leave Your World Behind
12. There is A Light That Never Goes Out [The Smiths]
Im Nachhinein...
... erwiesen sich Reinhard & Mai trotz Verriss als sympathische Verlierer. Wer mir schreibt, wer auf Bathory, Slayer und Virus steht, und nebenbei für die Neo-Metaller NHA und Dreadline lärmt, kann kein böser Mensch sein.
 
 
Heiliger Vitus in der fünften Rauhnacht 2003