CHEFDENKER, AMERICAN TOURISTS
D-Frankfurt am Main, Raumstation Rödelheim - 4. November 2005
Schwere Unruhen und explodierende Gewalt in Frankreich: Jugendliche schleuderten in der neunten Nacht hintereinander Molotow-Cocktails auf Autos, öffentliche Gebäude und Betriebe; und feuerte Schrotladungen, Steine und Boulekugeln gegen Polizei, Feuerwehren und Sicherheitskräfte... Auch Frankfurt hat unbequeme Gestalten. Heute traf man sich zu einem Punkkonzert in einem Rödelheimer Hinterhof. Um neun hatten wir unsere Hintern hingeschafft. Rund vierzig Leute vertrieben die Zeit mit Kiffen, Trinken und Diskutieren im Freien: leder- und killernietenbewehrte Iros und Stachelpunks, Kuttenträger, Straßenkids und weiteres Krassvolk. Auch der stubenkleine Klub selbst war brechend voll. Peanut und ich: die Zahlenden Nummer 25 und 26. „4 €. Kein Gruppentarif. Auch wenn ihr Freunde von Fred seid!“ stand an der Kasse geschrieben. Ein Dutzend in Lonsdale und Harrington-Jacken steckender Oi!-Glatzen war da. Dazu eine Diwotschka mit allerlei Piercings und ´nem Plasteschild von der „Jungen Toilette“ an der Mütze. Auch der befreundete Sozialarbeiter Jochen war angerückt. Nach sieben Wochen Verzicht wollte ich mir heute mit ihm den Schädel wegblasen. Ein sturzbesoffener Engländer glotzte mich lange an - um letztlich zu konstatieren: „You are okay!“
22 Uhr 20 ging´s auf der kleinen Bühne ab. Von weither, aus dem schleswig-holsteinischen Neumünster waren sie aufmarschiert, die AMERICAN TOURISTS. Etliche Nazipunks soll es dort geben. Ein „Ui! Ui! Ui!“ für sie, denn für rechts hegten Malek, Tim und Thomas wahrlich keine Sympathie. 'Kinder des Zorns' haben sie ihr Werk getauft, und mit dicken Zornesadern und „Nur geträumt“ rasselten sie los. Die Raumstation war voll und die Punks pogten von der ersten Sekunde. Zorn und Wut, Suspense und Ironie, waren die Bestandteile der Touristswelt. Einer ganz eigene Welt aus klugen Worten, rabiatem Hardcore, melodischem Punk und einer gewissen Poesie. Ein Sound aus neurotischen Schreien (oft zweistimmig), rasenden Crustgitarren und explodierenden Trommeln. Kaum ein Stück reichte an die zwei Minuten. Und die Inhalte? Für den, der sie nicht kannte: nicht rauszuhören. Weil sie zwischen den Zeilen standen! Maleks Einlassungen zufolge ging es um Elementares wie Kartoffeln, Bier, Saufen, Konzerte, Freunde, Frauen und Ficken. Vor Lied Nummer sieben gab es den Aufruf: „Prügelt euch mit zusammengebunden Stöcken!“ (für „Geballte Stöckerkraft“), und Schlag elf hieß es: „Der letzte Song vor den mighty Chefdenkern. Wir wissen ja alle, warum wir hier sind...“ Die Amerikanischen Touristen waren roh bis bizarr...
 
... und die Schlacht um die eine Kloschüssel nicht minder - da der Rückzug zur Großen abgeschnitten war. Sechzig Leute drängten hinaus ins Freie und blockierten die Treppe zum Hof. Der Rest harrte vorm gemischten Klo aus. Irgendwann war man an der Reihe und heilfroh, festes Schuhwerk zu tragen - weil der Boden voller Exkremente war. Ein Mädel faltete ihren Freund zusammen: „Du hast aber viel Knoblauch gegessen.“ Armes Schwein: das Vampirmäntelchen trug ich!
„Rocknroll!“ lautet der Salut um 23 Uhr 35 Uhr. Zeit für die nach eigenen Angaben „geilste Band der Welt mit den dicksten Eiern und schönsten Weihnachtskugeln“, Zeit für CHEFDENKER. Die Chefdenker waren „alde Sackgeseech“ aus dem Dunst von Köln, Abkömmlinge der Deutschpunker Knochenfabrik und Casanovas Schwule Seite. Entsprechend gediegen gingen Johnny Colognesome, The Kollege, Graf Disco und Billy Luck auch zu Werke. Fortan regierte Punkrock mit rauhen Vokalen auf Deutsch. Wie gemacht zum Singen und Tanzen. Die Inhalte waren indes verrätselt und trugen Titel wie: „Wer hat in deine Hose gepisst?“, „Nackte Weiber“, „16 Ventile in Gold“ und „Eine von hundert Mikrowellen“. Aber auch Melancholie gab es, wie: „Blut strömt durch die Straßen von Köln-Porz“, „Die Welt in 2-3- Minuten“ oder „Kugel durch den Kopf“. Alles Punkrock galore wie gesagt. Und auch mal ´nen skaschen Shuffle wie „Der Mann mit dem Hut“. Doch eines, daß macht die Chefdenker einzigartig im Punk: ihr Gitarrist The Kollege. Nicht nur seine Metal-Soli, auch Posierereien im Maiden-Stil verliehen der Schau Kultcharme: Mal die Gitarre als Bleispritze in die Meute richtend, mal gen Decke reckend, mal auf dem Lautsprecher kauernd, mal in Kiss-Manier die Zunge rausstreckend, ab und zu ein diebisches Grinsen zum Merch-Girl schickend - und zwischen jeder Nummer ein Nulldreier versenkend! Chefdenker hatten einen ganzen Kasten auf der Bühne, final dürfte er leer gewesen sein. Die achtzig Punks fraßen Chefdenker aus der Hand. Es wurde gepogt, gerempelt, stagegedivt und crowdgesurft. Und das alles in einem Raum von acht mal acht Meter. Irgendwann fiel selbst den Leuten hinterm Tresen der Alk aus der Hand. Chefdenker hatten noch eine Zugabe über „Angela“. Aber nicht für die Merkel, sondern für die schönste Frau ihres alten Gymnasiums; The Kollege schoß mir mit ´nem auf mich gerichteten Feuerstoß aus der Sechssaiter final das Licht aus, und Claus verkündete trocken: „Lemmy ist gut!“
 
Halb zwei haben wir Leine gezogen. Die Droogs in Frankreich fackelten in der neunten Krawallnacht 1260 Autos ab.
 
 

Heiliger Vitus, 8. November 2005
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
AMERICAN TOURISTS
(22.20-23.05)
1. Nur geträumt
2. unbekannt
3. Wie Kartoffeln
4. 180 Grad
5. Fanbus
6. unbekannt
7. Geballte Stöckerkraft
8. We Came for Romantic Reasons
9. Roadshow
10. unbekannt
 
CHEFDENKER
(23.35-0.40)
1. Wer hat in deine Hose gepisst?
2. Der Spruch auf deinem Anrufbeantworter ist scheisse
3. Nackte Weiber
4. Immer in Gefahr
5. Meine Heimat die Erde
6. Zu cool für Rock´n´Roll
7. Blut strömt durch die Straßen von Köln-Porz
8. Die Einsamkeit des Dozenten nach der Vorlesung
9. Heile Welt in 1-2 Minuten
10. Über alles wächst Gras
11. 3/4
12. Die Welt in 2-3 Minuten
13. 16 Ventile in Gold
14. Kugel durch den Kopf
15. Eine von 100 Mikrowellen
16. Solange die Erde sich dreht
17. Der Mann mit dem Hut
18. Frag mich ruhig
19. Frühjahrsputz
20. Sinn des Lebens
21. Herz + Film
22. Facetten der Liebe
23. Punkrockkavalier
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24. Angela