BORIS, LOVE MACHINE
D-Frankfurt am Main, Das Bett - 11. August 2017
Liebe Besucher! Aufgrund der künstlerischen Performance von Boris wird es heute lauter!!!: Mit diesem Aushang über der Bar sollten die heutigen Gäste der Konzerthalle im Frankfurter Gallusviertel vor schlimmen Folgen gewarnt werden... Auch der Anblick des übrigen Innenlebens war ein völlig neuer. Das „Bett“ hatte sich einer Verjüngungskur unterzogen: Der Konzertraum zeigte sich nicht mehr in beschmutztem Weiß sondern in gediegenem Schwarz; an der Decke drehte sich ein glitzernder Spiegelball; der Andenkenstand hatte sich von der rechten auf die linke Seite der Bühne bewegt; darüber strahlte in Weiß der Schriftzug DAS BETT. Mit an die dreihundert Gästen - durch die Bank Bohemiens! - und 25 Euro Einlaß, brachte Tokios Noise-Doom-Institution Boris die Kasse zum Klingeln. Damit ging es heute im Bett allerdings auch ziemlich quengelig zu. Überdies wurde der Abend durch eine Vorgruppe künstlich aufgeblasen...
Dankenswerterweise spannten uns LOVE MACHINE nicht weiter auf die Folter und legten Punkt neun los. Die fünfköpfige Kommune aus dem Dunst der Krautrockhauptstadt Düsseldorf war erst wenige Stunden vor Beginn annonciert worden. Mutmaßlich weil ihr Weg von Dänemark nach Frankreich über Frankfurt führte, und sie bei ihrem Auftritt im Juni eine gute Figur im Bett gemacht hatten. Andererseits: Love Machine - Wenn dieser Name nicht Programm fürs Bett ist! Obendrein hatte ich mich mit meiner Eskorte mit einem Mahl beim Asiaten ums Eck auch noch leiblich auf Japans Boris eingestimmt... In Gestalt von Love Machine und Boris ergab sich indes ein Zusammentreffen zweier Welten. Mit ihrem Zweitling 'Circles' spielten Love Machine psychedelischen, leicht progressiv schwebenden Rock wie er vier Dekaden nach den Doors und Grateful Dead zu klingen hat. Love Machine waren eine Liebeserklärung an die Sechziger- und Siebzigerjahre. Mit ihren langen Haaren, wilden Bärten, dunkelbunten Klamotten und puristischen Instrumenten atmeten die Rheinländer den Geist ihrer kalifornischen und westdeutschen Hippie- und Krautrock-Idole. So spielten, improvisierten und rekombinierten sie mit Gitarren, Congas, Tambourines, Trommeln, viel Herzblut und einer gewissen Traurigkeit ein halbes Dutzend Lieder, von „Sun Paradox“ bis hin zu „In Search of Time“ - was letztlich auch den mißmutigsten Gast zum Applaudieren brachte. Philosophische Ansagen (etwa: „So viele Leute sind reich. So viele Leute sind arm. Wir haben nur Geld“), eine zynische Abneigung gegen das englische Wort „alright“, der in Hendrix-Manier manisch-entrückt aufgerissene Mund des Sologitarristen und der bis zum Nabel reichende Wallebart des Vokalisten taten das Ihre.
Daß ich (wir) Tokios Doom-Legende BORIS jemals zu Gesicht bekommen (und auch noch in ihrer zerstörerischen Urfassung mit der Besetzung von 'Absolutego' aus dem Jahre 1996): Der Glaube daran war schon lange in mir zerbrochen. Während die Miterfinder des Drone Doom ('Absolutego') immer neue Horizonte erforschten, sich dem Plattenimperium „Southern Lord“ anbiederten, um Ausflüge in den Postrock ('Flood'-Album), Crossover ('Heavy Rocks'), Psych ('Akuma No Uta', 'Pink'), Crust und Noise ('Veins') bis hin zum Shoegaze ('Attention Please', 'New Album') zu unternehmen, war mein Interesse in Trümmer gefallen. Doch mit 'Dear' wollten sich Boris ein Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung „himmelweit hinterm Himmel“ zeigen... Was folgte, spottet jedem Versuch einer Schilderung. Takeshi, Wata und Atsuo präsentierten heute ihr aktuelles (das 23!) Studioalbum und gaben die zehn Kapitel wortlos und originalgetreu der Platte wieder; erweitert um den Eröffner ihrer 2005er Schallrille 'Pink'. „Farewell“ war nicht nur die Zugabe, sondern auch der einzige „melodische“ Abweichler (aber immer noch schräg genug!) in einer sich konsequent dissonant und zeitlupenhaft dahinschleppenden Drone-Doom-Orgie von 95 Minuten! Trotz Parallelen mit den zuletzt so gepuschten, artifiziellen Sunn O))) blieben Boris einzigartig. Die Japaner kamen als eine Art „Schwarze Reiter“ unter Kutten verhüllt und mit weißem Antlitz getarnt. Sie schienen von Nebel verweht, waren aber in jedem Augenblick absolut greifbar. Alle drei schrien und keiften ins Mikro. Auf Japanisch. Trommler und Perkussionist Atsuo tat dies in Manier eines Black Metallers mit transzendental ins Jenseits gerichtetem Blick. Während Sechssaiterin Wata als Geisha im Bunde eher sparsam agierte; und Frontmann Takeshi mit seinem doppelläufigen Apparillo aus Bass und Gitarre hin und wieder einen bizarren Veitstanz hinlegte. Derweil die Masse immer tiefer in einem schwarzen Geflecht aus Dunst und doomiger Faszination versank, folgte der eigentliche Koloss ganz am Ende. „Dear“, ein düster-elegischer Monolith von zehn Minuten, war der nackte Wahnsinn! Als einziger Wermutstropen blieb das häßliche Merchandise. Mein Flehen nach einem Autogramm besiegelte der langhaarige Takeshi mit einer Verbeugung und zusammengefügten Händen. Sayonara! Boris lebt!
 
 
((((((Heiliger Vitus)))))), 14. August 2017
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
LOVE CIRCLE
(21.00-21.50 / Liedfolge ohne Gewähr)
1. Sun Paradox
2. Maze
3. Rotation of Earth and Love
4. Circles
5. Starship Traffic
6. Gravity
7. In Search of Time
 
BORIS
(21.13-23.48)
Intro Dystopia -Vanishing Point-
1. D.O.W.N. -Domination of Waiting Noise-
2. DEADSONG
3. Absolutego
4. Beyond
5. Kagero
6. Biotope
7. The Power
8. Memento Mori
9. Dystopia -Vanishing Point-
10. Dear
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11. Farewell