BÖHSE ONKELZ
D-Frankfurt am Main, Landgericht - 24. September 2010
Die Onkelz waren schon immer was ganz Besonderes für mich. Nicht nur, daß man in den Achtzigern und Neunzigern in Frankfurt Tür an Tür im selben Viertel hauste (von der „28“ zu Haus Nummer 37 war es ja nicht so weit). Nein, man war vom gleichen Alter, trug schwarze Klamotten, ging zum selben Tätowierer, trank das gleiche Bier, begeisterte sich auch für Oi-Musik, haßte alles und jeden, und wachte morgens mit dem gleichen schweren Kopf auf. Man sah ins gleiche Licht, und hatte eine heilige Berührung in diesen Tagen. Die Onkelz, die mal im zweiten Stock eines Hinterhauses in Offenbach auftraten, wurden Legende. Erst für die Skinheads. Dann für die Metaller. Und schließlich für die Masse. Doch die Onkelz sind immer die Stimme der Straße geblieben. Kevin Russell schrie heraus, was in mir tobte. All den Zorn, all die Wut. Und heute, im Jahre fünf nach den Onkelz, am Freitag, den 24. September, mußte der Sänger einen weiteren seiner vielen schweren Kämpfe antreten. Von der Glitzersuite ganz oben - zur großen Strafkammer im Sitzungssaal 165 C des Frankfurter Landgerichts. Unfallflucht, Straßenverkehrsgefährdung und Körperverletzung, die Vorwürfe.
 
Ich nahm an der Hauptverhandlung teil. Mit mir der Leiter des örtlichen Jugendhauses. Punkt 8.58 Uhr erschien Kevin mit seinem Anwalt und ließ sich in zehn Metern Entfernung uns gegenüber auf der Anklagebank nieder. Eine Wand aus Glas trennte uns. Zehn Kläger und Richter schloßen den Kreis. Von der Presse waren 60 zugelassen (etwa 30 kamen), dazu durften 70 Zuhörer rein. Die Ersten - ein Pärchen in Onkelz-Kluft - hatten schon morgens um 7 an der Tür gerüttelt. Aber am Ende wollten nur 50 Leute Kevin sehen (darunter ein Dutzend ausländischer Herkunft).
Kevin und - rechts hinter Glas - Vitus
Auf den ersten Blick wirkte Kevin wie ein suchender Weltenwandler. Unsicher der Schritt, die letzten schütteren Strähnen ins Genick gestriegelt. Eine Nickelbrille steckte über der Stirn, über der Schulter baumelte ein Rucksack, dazu trug er eine Daunenweste, ein schwarzes Hemd bedeckte die Arme. „Ziemlich beschissen“, wäre eine milde Untertreibung zu seinem Äußeren. Kevin war bestürzend gealtert. Er hatte etwas unwirklich Nekrophiles. Die Augen des Onkels lagen tief im Schädel, auf der maskenhaft wächsernen Haut lag Schweiß. Kevin kam als jemand, der die Endphase einer langen Rauschgiftkarriere erreicht hatte. „Für Papa“ und „Für Mama“ hat er sich ablichten lassen, und dabei irren Blickes in die Kameras geglotzt. Und Angaben zur Person mußte er machen. „Bin mehr oder weniger Frührentner, war Sänger.“ Dazu die Korrektur an die Adresse des Richters: „Kilcock“ sei der Wohnsitz, „nicht Dublin.“ Das waren Kevin´s einzige Worte, und sie klangen eigenartig verschwommen und geistesabwesend kalt. Alles war kalt. Kevin saß fortan innerlich versteinert da, der Blick ging ins Leere. Es stimmte verdammt traurig, Kevin so zu erleben. Aus dem kräftigsten, böhsesten und radikalsten aller Onkels, dem mit dem größten Herzen, war ein zerfallenes Knäuel aus Apathie und Demenz geworden.
 
Der Prozeß begann mit schweren Anschuldigungen. Am Silvesterabend 2009 soll Kevin auf der Autobahn in Frankfurt unter Kokain und Crack ein Auto in die Leitplanken gerammt haben und unverletzt übers verschneite Feld verduftet sein. Zwei Personen - dummerweise jugendliche Migranten - waren im brennenden Wrack verletzt worden. Einer verbrannte sich die Beine, der andere beschuldigte den 46jährigen, ihn „zum Krüppel gemacht“ zu haben. Statt mit einer „Fahrt zu einer Party“ endete die Tour für eins der Opfer mit dem Verlust dreier Finger. Als Unfallfahrer hatte sich aber ein anderer gestellt...
 
Am Ende des Tages blieben viele Fragen. Wo waren sie, die einstigen Heerscharen der Anhänger? Die Tausenden und Abertausenden, die noch immer Onkelz-Platten kaufen; die Hooligans, die im Stadion „Mexiko“ grölen? Wo war sie, die Gemeinschaft der Onkels, Tanten, Neffen, Nichten und Enkelz? Wo war der böhse Freundeskreis? Kein Zeichen von Stephan, keine Spur von Gonzo, und auch keine von Pe! Keine Hilfe in der Not von all denen! Niemand, der in diesem schaurigen Szenario mit Kevin die gleichen Lieder sang.
Die Verhandlungstermine
Zum Prozeßauftakt wurden zwischen 9.00 und 14.18 Uhr die Opfer sowie zwei nette Männer und eine freundliche Dame von der Polizei vernommen. Sieben Fortsetzungstermine sollen am 1.10., 4.10., 6.10., 25.10., 28.10., 1.11. und 4.11 folgen. Das Urteil wurde am 5. November 2010 erwartet.
 
Ich bete, daß Kevin diesen Kampf siegreich durchsteht!
Am Ende des ersten Tages hatte ich ein gutes Gefühl.
Onkelz über alles!
 
 

Video:
>>
Prozeßauftakt ./.Kevin Russell
(40 Sekunden in Bewegtbildern mit Vitus im Publikum, ganz am Ende auf der rechten Seite)
 
 
Fortführung und Ende
 
Kevin muß für zwei Jahre und drei Monate hinter Gitter. Das entschied das Gericht am Montag, den 4. Oktober. Schon nach drei der neun Termine hatte die Staatsanwaltschaft für drei Jahre und vier Monate plädiert. Die Verteidigung nannte kein genaues Strafmaß. Nach Lage der Akten gab es keinen Zweifel, daß Kevin für den Unfall auf der A 66 verantwortlich ist. Er soll mit 230 Sachen in ein anderes Fahrzeug gerast sein. Augenzeugen hatten die Verletzten aus dem Feuer gezogen, während der Unfallverursacher sich verdrückte. Kevin hatte bis zuletzt geschwiegen und das Urteil fast gelangweilt hingenommen. - Am Abend vor dem Urteil hatten sich Stephan und Pe, mit denen Kevin ein Vierteljahrhundert als Böhser Onkel unterwegs war, von ihrem früheren Wegkameraden distanziert (siehe unten).
 
 
Onkel Vitus, 26. September/4. Oktober 2010
(Filmen und Fotografieren waren im Gerichtssaal, den Zugängen und Treppenhäusern nicht gestattet und wurden bei Zuwiderhandlung geahndet. Aus diesem Grunde habe ich zwei Bilder aus dem Buch „Danke für nichts“ genommen, eins von der dpa, dazu zwei Außenaufnahmen vom Gericht.)
Kevin
1983 in Berlin
...
und
...
1993 auf H.
Kevin
 
2. Oktober 2010 - 18:40 Uhr
 
Da wir, ähnlich wie ihr, gehofft haben, Kevin würde persönlich zu den Vorkommnissen Stellung beziehen, wir in der Zwischenzeit davon ausgehen müssen, dass das nicht mehr geschieht, sehen wir uns in der Pflicht, unsere Sicht der Dinge mit Euch zu teilen.
 
Was den Unfall betrifft: Es obliegt uns nicht, über Recht und Unrecht zu urteilen und schon gar nicht wollen wir hier dem vorgreifen, was heraus kommt, was in der Silvesternacht 2009 geschehen ist. Dafür gibt es Richter, Staatsanwälte und Ermittler und letztendlich liegt es auch an Kevin, Aufklärung zu leisten.
 
Ohne alte Klischeevorstellungen bedienen zu wollen: die Wahrnehmung der Onkelz in der Öffentlichkeit war uns immer egal und veranlasst uns auch jetzt nicht die Artikel von „Bild und Co.“ zu kommentieren, zumal wir die Berichterstattung in der Breite als gar nicht mal unfair empfunden haben. Dass wir, ausgelöst durch Kevins Verhalten, zur Zielscheibe der Presse wurden, müssen wir uns wohl gefallen lassen. Wer wie wir die Morallatte dermaßen hoch gelegt hat, darf sich jetzt nicht wundern, wenn nun Spott und Häme allgegenwärtig sind. Dass aber auch ihr durch alles, was gerade vor unser aller Augen passiert, unsere Glaubwürdigkeit und unser Lebenswerk in Frage stellt, drüber gilt es zu reden: Die Tragik und Tragweite dessen, was rund um Kevin gerade passiert, lässt keinen anderen Schluss zu, als euch, unseren Fans, reinen Wein einzuschenken und die Dinge anzusprechen, vor die wir uns eigentlich schützend stellen wollten. Kevins Krankheit und Drogenproblematik war schon immer allgegenwärtig und wurde nicht, wie oft fälschlicherweise dargestellt, durch das Ende der Onkelz ausgelöst, sondern war maßgeblich dafür verantwortlich, dass es zur Trennung kam. Wir haben uns damals konsequent für das Ansehen der Band entschieden und gegen eine damals schon absehbare mögliche Demontage. 25 Jahre ehrliche und glaubwürdige Arbeit an und mit den Onkelz sollten nicht in einem Desaster enden. Wir wollten erhobenen Hauptes das Schlachtfeld verlassen. Dass uns das nicht 100% gelingen sollte, lag an vielem, steht aber auf einem anderen Blatt. Eines könnt ihr uns glauben: Wir wollten Kevin schützen - vor sich selbst und davor, die Öffentlichkeit an seinem Zerfall teilhaben zu lassen. Und wir wollten unsere Arbeit, all das Herzblut und all die Widerstände nicht dadurch in Frage stellen, weil wir nicht die Größe besitzen, zum richtigen Zeitpunkt den Vorhang fallen zu lassen. Soweit die Intention… Habt ihr euch schon einmal gefragt, ob die Menschen, die ihr so verehrt, allen voran Kevin, nicht einfach nur eine Projektion eurer Vorstellungen und Idealisierungen sind? Ehrlich, ihr habt es mit Menschen zu tun, die die gleichen Stärken und Schwächen und Ängste haben, wie ihr. Die es lediglich geschafft haben, ihre Probleme, Dämonen, ihre Zerissenheit und ihre Auseinandersetzungen besingen zu dürfen und deren Lieder von vielen Menschen wahrgenommen wurden. Stephans Texte waren auch immer Therapie und Durchhalteparolen, für Kevin und uns selbst. Leider wenden sich die Dinge nicht immer zum Besten und sind nicht immer ganz Ideal… Wem erzählen wir das? Bereits vor dem Ende des Onkelz nahm die Anzahl der Gelegenheiten zu, in denen Kevins Dämonen die Oberhand behielten. Mal folgenlos, mal mit dramatischen Auswirkungen. Und auch, wenn er durch die Hilfe seiner Freunde immer wieder der eigenen Hölle entkommen konnte, mussten wir über die Jahre einsehen, dass sich die Sucht in eine Krankheit verwandelt hat, die er nicht dauerhaft besiegen konnte. Dass man beste Freunde war ist leider keine Garantie, dass es immer so bleibt. Freundschaften und Beziehungen sind keine Einbahnstraßen und wenn die gegenseitigen Bedürfnisse nicht mehr erfüllt werden, die Ansichten und Werte nicht mehr übereinstimmen, hilft auch das Ganze gemeinsam Erlebte nicht weiter. Was aber im Umkehrschluss nicht heißt, dass die ganze Vergangenheit erstunken und erlogen war. In unserer Biographie ist Kevins Suchtkarriere detailliert und angemessen drastisch geschildert. Jemandes Karriere, den Alkohol und Drogen mehrfach fast umgebracht haben und bei dem der ständige Missbrauch sichtbar Spuren hinterlassen hat. Der Kevin, der dieser Tage auf der Anklagebank sitzt, ist nicht mehr der Kevin, mit dem wir gemeinsam all die Jahre durch dick und dünn gegangen sind. Kevin hat sich in den letzten Jahren ein neues Umfeld zugelegt und auf Einflüsterungen gehört, die nicht gut für ihn waren. Dabei sind Dinge passiert und auch nicht passiert, die irreparable Schäden hinterlassen haben. Unsere Gedanken sind nach wie vor bei den Opfern. Wir wünschen den beiden von ganzem Herzen, alles erdenklich Gute.
 
Pe und Stephan