NEBULA, ELECTRIC HORSEMAN
D-Frankfurt am Main, Orange Peel - 16. Juni 2018
Auf der Suche nach der verschwundenen Zeit war ich am heutigen Sonnabend mit Frau P. im sündigen Frankfurter Rotlichtviertel unterwegs. Dort, wo noch immer ungehemmter Sex auf schmutzige Kriminalität prallt. Nach einem Gang über die von Bordellen, Dirnen, Amateurnutten, Freiern, Junkies und Betrügern dominierten Taunusstraße, waren wir unbeschadet auf der parallel verlaufenden Kaiserstraße angelangt. Unterm hohen, gründerzeitlichen Portal der Nummer 39 öffnete sich der Durchgang zu einem Atrium mit dem Klub „Orange Peel“ im düsteren Winkel. Wo heute unter drei Deckenleuchten in Form der namensstiftenden „Apfelsinenschalen“ fünfzehn Konzertgänger rumhingen, befand sich in den Achtzigern - sofern die Erinnerung mich nicht täuscht - nein, kein Bordell - ein Pornokino von Beate Uhse. Hinterm Kassenpult saß Organisator Laiki Kostis höchstpersönlich. 18 Euro wurden fällig. Trotz verlautbartem Einlaß von 19 Uhr 30 blieb die Saaltür lange zu. Drin übten allerdings nicht die weitgereisten Nebula aus USA, sondern Electric Horseman aus Darmstadt. Und die wollten gar nicht aufhören - bis Laiki der Kragen platzte und so halb neun rum den sympatisch verpeilten Psych Lord Konrad, ein Knilch mit Pilzperücke, anblaffte: „Die machen jetzt seit fünfundzwanzig Minuten an der Nummer rum. Irgendwann ist Schluß!“ Immerhin durfte der Besucher drin ein Getränk kaufen - Flaschenbier in Frauengröße für vier Euro! Währenddem hockte der Boss von Nebula mit seinem Trommler im Durchgang zur Kaiserstraße, wobei Letzter den Boden zum Warmspielen nutzte. Ein Bild wie frisch von der Taunusstraße entsprungen... Anderthalb Stunden nach angesagtem Einlaß durften wir den Konzertraum betreten. Jener verströmte den rauhen Charme einer Lagerhalle. Die Wände schimmerten in schwarzem Violett; seitlich stand eine Bar; rückwärtig die Bühne; an der Decke hing eine glitzernde Silberkugel. Das einzige Licht spendete ein Strahler hinter der Bühne. Trotz amtlichem Beginn von zwanzig Uhr hatte sich dort noch nichts getan - außer Probe! Dafür lief mit Ex-Broken-und-Soleilnoir-jetzt-Blank-When-Zero-Frontmann Flo ein uralter Bekannter auf mich zu, zusammen mit seiner Alina. Vierzehn Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Alina wog nur noch die Hälfte...
Die Musiker fingen mit angemessener Verspätung an. Was ist schon ein Stündlein? Und die Musiker blieben nach ihrem ausgiebigen Aufwärmprogramm auch gleich oben stehen. Denn man mußte Angst haben, von dort oben runter zu fallen: Die Bühne des Orange Peel war die häßlichste, die ich je sah: zwar breit, aber nur maximal zwei Meter tief und unverhältnismäßig hoch - ein Mauersims vor einer nackten Wand. ELECTRIC HORSEMAN blieben für mich eine Geschichte, die das Leben nie schrieb. Vier spindeldürre Typen mit hippiesken Frisuren, Bärten und Klamotten, spielten psychedelischen Folk Rock im Ton von Neil Young. Hübsch für Blumenkinder, aber de facto überambitioniert und unfaßbar steif. Anstelle eines „Elektrischen Reiter“s erlebte man eher einen Kastrierten Esel. Schon nach dem ersten Stück gingen viele raus, darunter Flo und ich. Die Frauen hielten länger durch, wurden aber auch nicht gerade vom Sattel gerissen. Das letzte Lied verfolgten wir aus Anstand und Respekt - es schien zugleich das beste.
NEBULA waren wieder mal in Frankfurt! Nach 1999, 2000, 2002 und 2010 war es unser fünftes Erlebnis mit Glass und Konsorten. In seiner heutigen Reinkarnation setzte sich das Dreigestirn aus dem erblondeten Sechssaiter und Sänger Eddie Glass, Viersaiter Tom Davies und dem neuen Trommler Michael Amster zusammen. Ist noch etwas übrig geblieben vom traditionellen Stoner Rock aus dem Südkalifornien der Neunziger, vom Heavy Psych, der das neue Jahrtausend ausmachte, von der rohen Kraft, die Nebula immer ausströmte? Das frug ich mich. Immerhin waren Nebula Pioniere des Genres, Glass sogar Mitgründer der ruhmreichen Fu Manchu! Mit dem ersten Riff um 22 Uhr 16 war aller Groll über den bisherigen Verlauf verpufft. Es war alles so geblieben: Die drei Männer zelebrierten ihren kosmischen Mix aus Heavy Psych, Stoner Blues und Space Rock. Natürlichkeit und Einfachheit prägten auch heute den Stil, die Konzentration auf das Wesentliche. Der Chef stand hinterm Mikro, spielte rebellisch-glamourös wie ein Skater im sonnigen Kalifornien, unterstützt von seinem lässig-treibenden Bassisten und dem verrucht-adrenalingetriebenen Typ hinterm Schlagzeug. Der Sound kam frisch, knackig und intensiv. Alles schäumte über vor lauter Leben wie ehedem. Nebula klangen, als würde man den jüngst erlebten Karma To Burn endlich eine gescheite Stimme schenken, und alles, was sich derzeit „Stoner Rock“ nennt, über Cape Canaveral durch den Weltraum zur dunklen Seite des Monds jagen. Dabei waren die drei Helden umgeben von einer Schar, die wie in einem Anachronismus zu den angrenzenden Bankentürmen manisch mit ihren Haaren headbangte, verzückt vorm Geviert rumhüpfte (wie Alina und Flo), oder in stiller Ehrfurcht mitging. Nebula flogen prakisch durch ihre gesamte Geschichte, brachten alle ihre Klassiker, verzichteten aber mysteriöserweise auf ihren ersten echten Überflieger: das psychedelische „Let it Burn“, das ich so herbeigesehnt hatte. Nach fünfundsiebzig fantastischen Minuten entließen uns Glass, Davies und Amster in eine lauschige Nacht.
.:: ABSPIELLISTEN ::.
 
ELECTRIC HORSEMAN
(21.00-21.47)
1. Glassed, the Fall
2. New Air
3. Page
4. BT
5. OS
6. BBW
7. Wild Flowers
8. Into Here
 
NEBULA
(22.16-23.31)
1. Sun Creature
2. Full Throttle
3. Giant / Clearlight
4. Perfect Rapture
5. Aphrodite
6. Elevation / Down the Highway
7. Anything From You
8. Synthetic Dream / Pulse
9. Out of Your Head
10. Smokin´ Woman
11. Fall of Icarus
12. To the Center
13. All the Way
Im Durchgang zur Kaiserstraße stürmten wir den improvisierten, vom Schlagzeuger bedienten Andenkenstand. Jener redete mich wegen meines Saint-Vitus-Shirts mit „Wino“ an. (Für alle, die´s nicht wissen: Wino war der Sänger von Saint Vitus.) Wir gingen weiter ... hinaus ins sommerwarme Frankfurt. Dort drückten uns Alina und Flo. Daß sich das Bahnhofsviertel vom Bordell- in einen Szenestadtteil wandelt, ließ sich am besten auf der Kaiserstraße erkennen. Auf deren Bürgersteigen reihte sich ein hedonistischer Biergarten an den nächsten. In dem vom „Dream Cow“ konnten wir während der Umbaupause ein leckeres - und vor allem günstiges! - Helles stürzen, und den Sieg von Kroatien über Nigeria bei der Fußball-WM genauso verfolgen, wie den Abzug der Electric Horseman (die vor der Schänke parkten). Da sich der Zeiger Mitternacht näherte und die Dream Cow bereits dicht war, beschlossen Frau P. und ich noch einen Spaziergang über die Elbe- und Münchner Straße zur Kultkneipe „Moseleck“ - heute eine Kaschemme aus Kampftrinkern, Unterweltlern, Hooligans, Rotlichttouristen und bettelnden Flüchtlingen. Die etwas härter veranlagte „Henry´s Pinte“, in dem Luden mit Baseballschlägern verkehrten (die mit Blei ausgegossen waren), hatte schon Ende der Achtziger das Zeitliche gesegnet. Dito der Ex-Gatte meiner Großtante, ein Bordellbesitzer in der goldenen Zeit. Mit der letzten S6 landeten wir gegen ein Uhr auf dem Frankfurter Berg. Der Zug hielt so dämlich, daß die Reisenden ins Gleisbett hinabsteigen und über die lebensgefährlichen Schienen klettern mußten. Nach einem schönen Tag in Frankfurt, krochen wir halb drei ins Bett.
 
 
Heiliger Vitus, 19. Juni 2018